Morgen trauert Oxford
sich um ihre Schultern zu schmeicheln begann. Sein Gesicht befand sich so dicht vor ihrem, dass sie die borstigen, braunen Haare sehen konnte, die aus seinen Nasenlöchern wucherten.
»So, Kate, und nun erzählen Sie mir, weshalb Sie gekommen sind. Ich will sehen, was ich für Sie tun kann.«
Der letzte Satz klang so sehr nach versteckter Andeutung, dass Kate kaum wusste, wie sie anfangen sollte. Am besten wäre es, gleich ins kalte Wasser zu springen und ihr Anliegen vorzubringen, ehe Olivia zurückkam und sie wieder mit eisigem Blick musterte, dachte Kate. Oh ja, Olivia entsprach genau dem Typ Frau, der Briefe mit roter Tinte unterschrieb, die wie getrocknetes. Blut aussah. Kate fragte sich, was sie verbrochen hatte, um eine solche Behandlung zu verdienen, tröstete sich aber damit, dass weibliche Hochschulabsolventen sich vielleicht so verhalten mussten, wenn sie es zu etwas bringen wollten.
»Maria Susanna Taylor«, antwortete sie rasch und überlegte, wie sie genügend Hände und Arme des Professors von sich wegschieben konnte, um in der Lage zu sein, ihren Notizblock und einen Stift aus der Handtasche zu holen und mitzuschreiben.
»Meinen Sie die Schwester von Ellen Ternan?«
Prima. Immerhin wusste er, wovon sie sprach. »Genau die. Ich schreibe gerade an ihrer fiktionalen Biografie. Selbst ohne den Skandal, den ihre Schwester durch die Liaison mit Charles Dickens heraufbeschworen hat, ist sie eine faszinierende Persönlichkeit.«
»Das kann man wohl sagen. Nach ihren Erfolgen auf der Bühne und zehn Jahren Ehe mit dem ehrenwerten Mr Taylor aus Oxford ging sie nach London und lernte malen, ehe sie ins Ausland verschwand und ihren Lebensunterhalt als Journalistin in Rom verdiente. Ich bewundere unabhängige Karrierefrauen. Sie etwa nicht?« Ein Arm, der erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Elefantenrüssel hatte, quetschte Kates Schultern zusammen, während warmer Atem ihren verbliebenen Ohrring zum Schwingen brachte.
»Ich würde gern Ellens Beziehung zu Dickens aus der Sicht Marias darstellen. Vielleicht auch zeigen, welchen Einfluss Ellens Erfahrungen auf ihr Leben hatten.«
»Aber das ist doch überhaupt kein Problem. Da gibt es dieses hervorragende Buch von …«
»Richtig. Ich habe es gelesen«, unterbrach Kate ungeduldig. »Ich kenne es, und alle anderen kennen es auch. Ich suche aber nach einem neuen Aspekt. Am liebsten natürlich irgendeinen hübschen Skandal, in den auch Dickens verwickelt war.«
»Mit anderen Worten, Sie möchten die Existenz eines unehelichen Kindes beweisen?«
»Vielleicht sogar mehrerer«, gab Kate kühn zurück.
»Und das, obwohl bisher niemand nachweisen konnte, dass es solche Kinder gibt? Man weiß ja noch nicht einmal, ob die Beziehung zwischen Ellen Ternan und Charles Dickens überhaupt sexueller Natur war. Erst in der heutigen Zeit spielt Sex eine derart beherrschende Rolle.« Wieder ein lüsterner Blick und die männliche Hand auf dem weiblichen Oberschenkel.
»Ach!«, schnaubte Kate und machte einen wenig erfolgreichen Versuch, den Übergriff der Hand einzuschränken. »Wenn die ganze Geschichte so harmlos war, warum hat er dann seine Frau gezwungen, ihn zu verlassen? Warum hat er seine Briefe verbrannt? Warum seine Tagebücher vernichtet? Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, dass es keinerlei körperliche Annäherung gegeben hat, als sie nach Frankreich und wieder zurück reisten und in dieses schreckliche Eisenbahnunglück verwickelt wurden?«
»Immerhin war Ellens Mutter dabei«, unterbrach Brendan Adams. »Ihr Problem, Kate, besteht im Grund darin, dass sie die Geschichte aus dem Blickwinkel der heutigen Zeit sehen.«
»So versuchen Sie doch wenigstens einmal, meinen Standpunkt nachzuvollziehen. Wenn es passiert ist, dann wahrscheinlich in der Zeit, als Ellen hier von der Bildfläche verschwand und vermutlich in Frankreich lebte. Zufällig heiratete Maria genau zu diesem Zeitpunkt ihren Braumeister und wohnte in Oxford in der Branbury Road – weniger als eine Meile von hier entfernt. Nach allem, was wir über ihr späteres Leben wissen, kann ich mir durchaus vorstellen, dass sie sich zu Tode gelangweilt hat – Sie etwa nicht? Sie und Mister Taylor scheinen sich letzten Endes recht freundschaftlich getrennt zu haben. Glauben Sie nicht, dass sie in ihrem Zimmer gesessen, Pläne geschmiedet und dabei das aufregende Leben ihrer Schwester verfolgt hat? Ich bin sicher, dass sie sich fast jeden Tag geschrieben haben. Maria hat sicher auch Tagebuch
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