Morgen trauert Oxford
nannten, saß ein wenig abseits und hatte keinen Blick für die schöne Aussicht. Mit kerzengeradem Rücken starrte sie in die entgegengesetzte Richtung, auf eine Reihe schöner alter Häuser, die den Hügel hinabzuwandern schienen und ihre Fenster mit Gardinen verhüllt hatten.
»Oxford!« Ant schob die blasse Haarsträhne beiseite, die das Gesicht der jungen Frau vor den anderen verbarg. »Freust du dich nicht, Angel?«, flüsterte er dicht neben ihrem Ohr. »Die Stadt der träumenden Türme und vielfältigen Möglichkeiten. Die Stadt der Legenden und der Romantik.«
Angel schloss die Augen. »Verpiss dich, Ant«, sagte sie.
»Wir dürfen nicht fluchen«, meldete sich Dime, der den letzten Satz mitbekommen hatte. »Das ist Ants Gesetz.«
»Dime hat Recht«, nickte Ant. »Wie sagt man, Angel?«
»Verzeihung, Ant«, antwortete die junge Frau pflichtbewusst, jedoch mit abgewandtem Blick. »Eigentlich finde ich es ganz schön hier. Wirklich, Ant, ich finde es schön. Es ist nur einfach nicht der Ort, wo ich jetzt sein möchte.« Ant ließ ihre Haarsträhnen fallen und entfernte sich ein paar Schritte.
Angel wollte die jungen Männer wirklich nicht brüskieren. Sie hatten sich ihrer angenommen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Doch das, was sie sagten, bedeutete ihr nichts. Sie musste an ihrer Vision festhalten, und das bedurfte ihrer gesamten Energie und Konzentration. Die fortgesetzte Anstrengung ermüdete sie so sehr, dass sie sich am liebsten gleich hier auf dem Hügel zwischen verstreuten Cola-Dosen und alten Hamburger-Schachteln zum Schlafen hingelegt hätte. Die ununterbrochenen Sympathiebeweise der anderen gingen ihr auf die Nerven. Aber sie brauchte ihre Unterstützung und ließ sich daher auf ihre Regeln ein. Andererseits war sie es leid, Ant und der Familie ständig dankbar sein zu müssen. Doch das war nicht das Einzige, was ihr zu schaffen machte. Es gab einen Ort, den sie unbedingt aufsuchen musste, und die Familie – Ant, Gren, Dime und Coffin – sollte sie dort hinbringen. Sie waren dazu bereit, allerdings taten sie es in ihrem eigenen Rhythmus, und der erschien Angel unendlich langsam. Bleib standhaft, ermahnte sie sich. Komm wieder zu Kräften. Werde stark für das, was du zu tun hast.
Coffin nahm eine Flöte aus dem mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Köfferchen, in dem er seine Instrumente aufbewahrte, und begann, eine einfühlsame keltische Melodie zu spielen. Dime setzte sich unmittelbar neben Angel und kam mit seinem rundlichen Gesicht dem ihren so nah, dass sie den Geruch der kürzlich verspeisten Pizza wahrnahm.
»Ist dir kalt?«, fragte er. »Wenn du möchtest, leihe ich dir meinen Pullover.« Doch Dimes Pullover roch, ebenso wie Dime selbst, abgestanden und nach altem Essen. Angel schüttelte den Kopf.
»Lass mich einfach in Ruhe«, sagte sie.
»Keine Sorge, Angel«, erwiderte er. »Wir bringen dich schon an den richtigen Ort.« Hilflos runzelte er die Stirn. »Wohin wolltest du nochmal?«
Angel seufzte. »Nach Leicester«, sagte sie. »Ich muss nach Leicester.« Es kam ihr vor, als hätte sie diesen Satz während der vergangenen Wochen mindestens hundert Mal wiederholt. Sie fürchtete ernsthaft, dass ihr die Hand ausrutschen könnte, falls Dime sie noch einmal fragte. Als sie sich den verblüfften Ausdruck seines runden, roten Gesichts vorstellte, musste sie lächeln. Dime lächelte zurück. Er freute sich, wenn sie fröhlich aussah.
Genau genommen waren sie alle recht glücklich. Sie saßen oder lagen auf dem Hügel und genossen den Anblick der Stadt. Unwillkürlich hatten sie sich in einer Art Dreieck angeordnet, in dessen Scheitelpunkt sich Ant befand. Er war schwarz gekleidet, wie immer. Schwarze Jeans, schwarze Stiefel und ein schwarzes T-Shirt mit ausgerissenen Ärmeln. Während des Sommers war sein Haar sehr lang geworden. Er trug es straff aus dem Gesicht gekämmt in einem Pferdeschwanz.
»He, sag mal, Ant«, fragte Gren mit der weinerlichen Stimme eines übermüdeten Kindes, »wo pennen wir eigentlich heute Nacht? Schon was aufgetan?« Er kramte das Stück Pappe hervor, das er ständig mit sich herumtrug. Heimatlos und hungrig , stand darauf. Er hielt es Ant vor die Nase und verstaute es wieder. Angel hatte noch nie begriffen, wie er dieses Schild bei sich tragen konnte, ohne dass es auch nur im Geringsten auffiel. Gren war unglaublich dürr und seine Kleidung eher dürftig. Trotzdem brachte er es fertig, an seinem Körper allerlei Dinge zu verstecken, die sich bei
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