Morgen wirst du sterben
was Valerie daraufhin geantwortet hatte. Auch das fiel ihr plötzlich wieder ein.
»Du und ich, wir sind doch Freundinnen«, hatte Valerie gesagt. »Ich könnte dir niemals wehtun.«
Und nun das. Die aufgebrochene Tür, die Blumenerde, die vollgeschmierte Wand. Und alles nur wegen dieser lächerlichen Prüfung, wegen einem Studienplatz, den Julie bekommen hatte und Valerie nicht.
Das kann doch wohl nicht wahr sein, dachte Julie und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie wollte nicht weinen, Valerie war es gar nicht wert, dass sie jetzt zu heulen anfing.
»Wer hat das gemacht, Julie?«, fragte Christian. Und seine Stimme klang so bestürzt und gleichzeitig so liebevoll und zärtlich, dass Julie den letzten Rest an Kontrolle verlor. Die Tränen begannen zu fließen, ein Rinnsal, ein Bach, eine Sturzflut, die sich nicht mehr eindämmen ließ.
»Ach du Schreck.« Er suchte nach einem Taschentuch und fand keins, schließlich holte er ihr eine Rolle Klopapier aus dem Bad.
Sie riss sich ein Stück ab, putzte sich die Nase, trocknete sich die Augen und heulte weiter.
Da nahm er ihr die Rolle wieder ab, zog sie an sich und küsste sie.
D ie Frau, die vor uns in der Schlange steht, ist nett. Sie hat eine Tüte mit Gummibärchen in der Tasche und fragt mich, ob ich auch welche will, und ich will. Aber Mama sagt Nein.
Er ist allergisch gegen Gummibärchen, sagt sie. Das stimmt nicht. Sie hat Angst, dass die Gummibärchen vergiftet sind, das ist es.
Die Männer machen so was, flüstert sie mir zu. Sie vergiften Süßigkeiten und Getränke. Nie was von Fremden annehmen, hörst du?
Die Gummibärchen waren bestimmt nicht vergiftet.
Wir stehen am Schalter an, weil Mama Geld braucht. Es dauert sehr lange, bis wir endlich an der Reihe sind. Mama soll ein Papier ausfüllen, aber da hat sie plötzlich unsere Adresse vergessen. Ist mir gerade irgendwie entfallen, sagt sie. Na, so was, sagt sie und schaut mich an.
Agnes-Bernauer-Straße 143a, sage ich.
Ach ja, richtig, sagt sie.
Der Mann hinter dem Schalter guckt komisch, als ob sie ihn verarschen will.
Sag Dad nichts davon, sagt sie, als wir wieder draußen auf der Straße sind.
6
Philipp hatte lange gezögert, bevor er eine Sekretärin engagierte. Als Einmannunternehmen, dachte er, ist man unabhängiger, flexibler und spart eine Menge Geld. Aber als sich die unerledigten Schriftsachen nicht mehr nur auf seinem Schreibtisch, sondern auch auf dem Fensterbrett, den Besucherstühlen und dem Besprechungstisch stapelten, hatte er eingesehen, dass es so nicht mehr weiterging.
Yasmin Färber war die erste Bewerberin, die er zum Vorstellungsgespräch einlud. Ihre Referenzen und Zeugnisse waren erstklassig. Sie war charmant und sah atemberaubend aus. Obwohl sie ihre Bluse damals bis oben hin zugeknöpft hatte.
Philipp sagte allen anderen Bewerberinnen ab und stellte sie sofort ein.
In den ersten Wochen schuftete Yasmin wie ein Tier. Unermüdlich und klaglos grub sie sich durch einen Berg von Altlasten. Abends verließ sie das Büro nicht vor neun oder zehn Uhr. Und auch am Wochenende erschien sie zum Dienst.
»Gehen Sie es ruhig an«, hatte Philipp damals zu ihr gesagt. »Was ich monatelang aufgeschoben habe, müssen Sie jetzt nicht in ein paar Tagen wegarbeiten.«
Aber sie schüttelte nur den Kopf und machte weiter Überstunden, bis sie Ordnung in das Durcheinander seiner Verwaltung gebracht hatte. Selbst Frau Klopp lobte heute das hervorragende Ablagesystem ihrer Vorgängerin.
Zum Dank hatte Philipp Yasmin zum Essen eingeladen. Frau Färber, damals war sie ja noch Frau Färber für ihn.
Als der Aperitif kam, blickte er sie feierlich an. »Ich verbiete Ihnen ab heute und für alle Zeit, am Wochenende das Büro zu betreten. Sie arbeiten viel zu viel. Ich kann das nicht länger verantworten.«
»Soll nicht wieder vorkommen.« Yasmin lächelte. »Jetzt ist das Schlimmste ja erst mal erledigt.«
»Auf Sie und Ihr Organisationstalent.« Philipp hob sein Sherryglas. Sie stießen an.
»Auf weiterhin gute Zusammenarbeit«, sagte Yasmin.
Beim Hauptgang erzählte sie ihm von ihrem früheren Unternehmen. Yasmin war von einer Kollegin so gemobbt worden, dass sie gekündigt hatte. Elf Monate war sie arbeitslos gewesen. »Es war nicht so, dass ich nichts gefunden hätte. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich brauchte eine Auszeit. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie diese Frau mich fertiggemacht hat.«
»Worum ging es denn?«, fragte Philipp betroffen.
»Um
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