Morgen wirst du sterben
mit den Schultern, ohne aufzublicken.
»Du hast nicht angehalten«, stellte Sophia fest. »Du bist einfach weitergefahren.«
Schweigen. Er zitterte jetzt am ganzen Körper, und sie zitterte auch, vor Wut und Empörung. Wenn er sie wenigstens angesehen hätte, aber er hob den Kopf nicht.
»Du willst Arzt werden«, sagte Sophia, »und lässt die arme Sau einfach so liegen. Sag mal, was ist eigentlich mit dir los, kannst du mir das mal erklären?«
»Ich konnte doch überhaupt nicht klar denken, Sophia«, flüsterte er. »Ich war blau … und total fertig.«
»Wenn du gegen die Leitplanke gerast wärst oder ein Straßenschild umgenietet hättest, okay. Da wär ich wahrscheinlich auch abgehauen. Aber ein Fahrradfahrer … Wie besoffen warst du denn? Das kapier ich einfach nicht.«
»Ich versteh mich ja selbst nicht mehr«, flüsterte er. »Ich bin total durchgedreht.« Sein Kopf sank noch ein Stück tiefer nach unten.
»Und dann? Am nächsten Morgen, als du wieder nüchtern warst?«
»Bin ich noch mal dahin gefahren. Aber da war nichts zu sehen. Keine Scherben, kein Blut oder irgendwas. Und ich konnte ja auch keinen fragen.«
»Natürlich nicht. Und zur Polizei konntest du auch nicht.«
Er schüttelte den Kopf. »Mir ist inzwischen auch klar, dass ich mich scheiße verhalten habe, Sophia.«
»Stand denn irgendwas in der Zeitung von einem Unfall mit Fahrerflucht? Oder hast du die vorsichtshalber auch nicht gelesen?«
»Doch. Zwei Tage später bin ich in der Polizeipresse auf einen Bericht gestoßen. Ganz kurz, war eher eine Notiz. Da stand was von einem Unfall, dass ein Radfahrer verletzt worden ist und in ein Krankenhaus gebracht wurde. Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen. Punkt.«
»Aber natürlich hast du dich nicht gestellt.«
»Nee. Es klang auch nicht dramatisch. Sonst hätten die das bestimmt ganz anders aufgehängt.«
»Und dann?«
»Einen Tag vor dem mündlichen Abi kam die erste E-Mail. Der Text war so ähnlich wie bei dir …«
»Zeig sie mir mal«, sagte Sophia.
»Geht nicht. Ich hab sie gelöscht.«
»Toll. Und weiter?«
»Nichts weiter. Ich hab die Prüfung vermasselt. Und die ganze Zeit darauf gewartet, dass der Typ sich wieder meldet. Vor zwei Wochen war es dann so weit. Wieder so eine komische Andeutung. So was wie: Ich lasse dich nicht aus den Augen.«
»Lass mich raten. Die hast du auch wieder gelöscht.«
Er nickte schuldbewusst. »Und gestern dann die SMS . Da hat der Typ das mit der Katze angekündigt.«
»In der SMS stand, dass er Egon ertränken will?«
»Na, nicht direkt. Aber dass im Garten eine Überraschung auf mich wartet.«
»Die SMS hast du natürlich auch nicht mehr«, meinte Sophia.
Moritz zuckte mit den Schultern. »Das war blöd, ist mir inzwischen auch klar. Aber weißt du, was wirklich komisch ist? Dem Radfahrer geht’s gut. Dem ist gar nichts passiert. Nicht mal das Fahrrad ist kaputt.«
»Woher weißt du das denn jetzt wieder?«
»Das hat Felix rausgekriegt.«
Felix. Sophias Herz machte vor Aufregung einen Riesensatz und blieb dann irgendwo in ihrem Hals hängen. Sie hatte sich fest vorgenommen, ihn zu vergessen, es war ihr auch fast schon gelungen. In den letzten Stunden hatte sie jedenfalls so gut wie gar nicht an ihn gedacht. Aber jetzt hörte sie seinen Namen und merkte, dass sie sich etwas vorgemacht hatte. Und spürte die Entzugssymptome schlimmer denn je. Herzrasen, Übelkeit, Schwindel, Atemnot.
»Und wie hat er das rausgekriegt?« Sophias Stimme klang, als ob ihr Mund voll Watte wäre. »Ist er zu den Bullen?«
»Nee. In einen Friseurladen.«
»Hä?«
»Nachdem ich diese Katze in der Regentonne gefunden habe, hatte ich echt genug. Da hab ich Felix angerufen und ihm alles erzählt. Felix ist cool, dem fällt eigentlich immer was ein.«
Felix ist cool. Zu cool, um Sophia anzurufen. Aber das gehörte nun nicht hierher. Sie musste sich auf das Wesentliche konzentrieren. Auf ihren Bruder. Auf die anonymen Nachrichten.
»Und was ist ihm eingefallen?«, fragte Sophia.
»Er ist zu der Unfallstelle gefahren und hat gesehen, dass direkt daneben ein Friseurgeschäft ist. Und dann hat er sich die Haare schneiden lassen, um dabei die Friseuse auszuhorchen. Friseusen wissen doch immer alles.«
»Hat er denn was erfahren?«
Moritz nickte. »Der Radfahrer war ein Cousin von der Schwester der Freundin der Friseuse. Oder so. Auf jeden Fall wusste die Frau, dass ihm nichts passiert ist. Er war nur total besoffen, deshalb
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