Morgen wirst du sterben
deutlich jünger und dünner auf dem Bild. Moritz hatte sich kaum verändert und Frau Rothe sah genauso aus wie heute. Sein Vater war ein großer, breitschultriger Mann, sportliche Figur, offenes Lachen. Dichtes braunes Haar, das nur an den Schläfen grau war. Kein Wunder, dass die Frauen so auf ihn fliegen, dachte Philipp.
Julie betrachtete das Foto eine ganze Weile lang. Dann hob sie den Kopf und musterte erst Sophia und Moritz und dann Philipp.
»Du siehst ihm am ähnlichsten.«
»Ich?«, sagte Philipp ungläubig. Er konnte keine Ähnlichkeit erkennen.
»Du hast auch ziemlich viel von ihm«, sagte Sophia zu Julie. »Die braunen Augen. Und wenn du so die Brauen zusammenkneifst. Das erinnert mich total an ihn.«
»Echt?«
Sophia nickte. »Komisch. Moritz und ich sehen ihm so gar nicht ähnlich. Dabei sind wir doch …« Sie unterbrach sich erschrocken.
Philipp grinste. »… seine echten Kinder«, beendete er ihren Satz.
»Das hab ich nicht gesagt.« Sophia wurde rot.
»Stimmt doch«, sagte Julie gleichmütig. »Könnt ihr mich mal updaten?«, fragte sie dann. »Was ist eigentlich mit unserem Vater passiert? Wie lange ist er schon weg? Gibt es irgendein Lebenszeichen oder hat sich ein Entführer gemeldet?«
»Darüber kann auch ich Sie informieren.« Becker, der aus ein paar Metern Entfernung beobachtet hatte, wie sich die Geschwister beschnupperten, trat jetzt näher. »Ich hätte natürlich auch noch die ein oder andere Frage an Sie. Ich schlage vor, wir gehen dazu ins Arbeitszimmer, da sind wir ungestört.«
»Die tappen ja wohl völlig im Dunkeln«, meinte Philipp, als der Kommissar mit Julie abgezogen war.
»Becker muss sich doch erst mal ein Bild machen«, verteidigte Sophia die Polizisten. »Die Geschichte ist mehr als verworren. Ich frage mich bloß, warum dieser Entführer sich nicht meldet.«
»Vielleicht gibt es keinen Entführer«, sagte Moritz. »Vielleicht liegt Papa irgendwo in einem Straßengraben oder im See.«
»Hör auf!«, rief Sophia.
»Warum?«, fragte Philipp. »Warum sollte ihn jemand umgebracht haben?«
»Keine Ahnung.« Moritz massierte sich die Nasenwurzel. Eine Geste, die Philipp zutiefst unsympathisch war.
Sophia bot ihm noch einen Kaffee an. Philipp schüttelte den Kopf. Er wollte keinen Kaffee, er wollte nach Hause. Oder wenigstens zurück ins Hotel.
»Was wisst ihr über euren Vater?«, fragte er.
»Nichts, wie es scheint«, meinte Moritz. »Und unserer Mutter geht es im Grunde genauso. Ich hab das Gefühl, dass sie keinen blassen Schimmer von seiner Vergangenheit hat. Dich kannte sie ja auch nicht. Oder deine Mutter. Und Julie war die totale Überraschung für sie. Vielleicht tauchen ja noch ein paar andere uneheliche Kinder auf, wenn die Polizei weiter recherchiert.«
»Kennst du denn jemanden, der mehr über ihn wissen könnte, Philipp?«, fragte Sophia.
»Ich kenne ihn doch selbst nicht.«
»Deine Großeltern?«
»Sind tot. Genau wie meine Mutter.« Philipp runzelte die Stirn. »Ihre beste Freundin«, sagte er dann. »Die müsste ihn gekannt haben. Meine Mutter und Ella kommen aus demselben Dorf, sie sind schon zusammen zur Schule gegangen.«
»Wo wohnt diese Ella denn?«, fragte Moritz.
»In München. Glaub ich jedenfalls. Ich hab sie schon ewig nicht mehr gesehen.« Seit der Beerdigung seiner Mutter, um genau zu sein. Am Grab hatte Ella ihm noch die Hand gegeben. Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst, Philipp. Er hatte sie aber nie gebraucht.
»Kannst du sie nicht mal anrufen? Oder vielleicht sogar besuchen, wenn du wieder in München bist?«, fragte Moritz.
»Ich weiß nicht. Das bringt doch nichts.«
»Das kannst du doch vorher nicht wissen«, sagte Moritz. »Ich würde einfach mal mit ihr reden.«
»Würdest du das, ja?«, gab Philipp zurück. Sein Ton war aggressiver, als er beabsichtigt hatte.
Moritz zog überrascht die Augenbrauen hoch. Er wollte etwas entgegnen, aber seine Schwester war schneller.
»Moritz hat Recht«, sagte sie ruhig. »Ich würde auch Kontakt zu dieser Ella aufnehmen. Irgendjemand hat einen Hass auf uns. Nicht nur auf mich und Moritz, auch auf dich und Julie. Und auf unseren Vater natürlich. Und ich für meinen Teil will wirklich wissen, wer das ist.«
»Schon gut«, sagte Philipp. »Ich rede mit Ella.«
Sophia schenkte sich die dritte Tasse Kaffee ein. Sie war todmüde. Am Vorabend hatten sie bis um Mitternacht mit Philipp geredet, dann war er wieder ins Hotel gefahren, obwohl sie ihm angeboten hatten, im
Weitere Kostenlose Bücher