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Morgen wirst du sterben

Morgen wirst du sterben

Titel: Morgen wirst du sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gina Mayer
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die Haarfarbe?
    »Du hast mich nicht genug geliebt«, flüsterte sie.
    »Sag mir, wie der See hieß, an den wir immer gefahren sind«, beschwor er sie.
    Sie schlang ihre Arme um die Brust, umfasste sich selbst an den Schultern und wiegte sich langsam hin und her. Und summte das Lied, das er kannte und nicht erkannte.
    Es ist sinnlos, dachte Philipp. Ich werde nichts von ihr erfahren, weil ich die richtigen Fragen nicht weiß. Als er aufstand, erwartete er Tränen, Vorwürfe. Dass sie versuchen würde ihn zurückzuhalten. Aber sie schien es gar nicht zu bemerken.
    Er war schon an der Tür, als ihm noch etwas einfiel. »Was passiert am 2. Juli?«
    Sie war wieder in sich zusammengesunken, der Kopf war gesenkt, der Blick auf ihre Hände gerichtet. Er wartete ein paar Sekunden, ohne Hoffnung auf eine Antwort. Annette war fort, zurückgeblieben war nur eine leere Hülle. Philipp wandte sich zum Gehen, als sie ihm doch noch antwortete.
    »Das ist unser Tag«, sagte sie. »Unser Jahrestag. Der Tag, an dem du zu mir kommen wirst.«
    Silke erwartete ihn im Flur. »Wie war’s?«, fragte sie neugierig.
    Er zuckte mit den Schultern. »Sie hat mich gar nicht richtig wahrgenommen.«
    »Frau Rose lebt in ihrer eigenen Welt.«
    »Wie lange ist sie schon hier?«
    »Schon lange. Viel länger als ich. Sie ist irgendwann in den Neunzigern eingezogen. Aber wann genau – da müsste ich in den Akten nachschauen.«
    »Auf jeden Fall sind es mehr als zehn Jahre. Eine lange Zeit.«
    Sie nickte. »Für die meisten Menschen sind unsere Wohngruppen nur eine Übergangslösung. Nach ein paar Jahren ziehen sie aus, weil sie ihr Leben wieder im Griff haben. Aber in der Wohngruppe 5 sind die schweren Fälle untergebracht. Frau Rose wird sicher ihr Leben lang Hilfe benötigen.«
    »Das ist ja schrecklich.«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Warum? Wir brauchen alle Hilfe, der eine mehr, der andere weniger. Von außen betrachtet wirkt ihr Leben vielleicht furchtbar, aber keiner von uns weiß, wie sie selbst es empfindet. Sie scheint nicht unglücklich.«
    »Sie war Künstlerin.«
    »Sie ist es immer noch. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Bilder, die sie in der Kunsttherapie gemalt hat.«
    Im Büro zog sie eine Mappe mit Buntstiftzeichnungen und Aquarellen aus dem Regal. Auf allen Blättern fand sich dasselbe Motiv: ein kleiner, runder blauer See. Im Sonnenschein, im Regen, am Tag und bei Nacht. Auf manchen Bildern waren Menschen zu sehen, ein Liebespaar, Familien, Kinder. Auf anderen lag der See einsam und verlassen da.
    »Was ist das?« Philipp zeigte auf einen Tierschädel, der auf einem der Aquarelle über dem Blau des Sees schwebte wie ein Geist.
    Silke kniff die Augen zusammen. »Sieht aus wie eine Ziege.« Sie lachte. »Keine Ahnung. Mich dürfen Sie da nicht fragen, ich hab keine Ahnung von Kunst.«
    »Die Bilder sind sehr schön.«
    »Das finde ich auch. So kraftvoll und ausdrucksstark.« Sie verstaute die Mappe wieder im Regal.
    »Woher kennen Sie Frau Rose eigentlich?«
    »Sie war mit meinem Vater befreundet«, sagte Philipp. »Sie war seine Geliebte. Aber das ist lange her.«
    Silke nickte.
    »Meine Geschwister und ich, wir haben in letzter Zeit anonyme E-Mails und SMS bekommen. Seltsame Drohungen.«
    »Und da dachten Sie, dass Frau Rose …?« Silke lachte. »Als sie in die Psychiatrie eingewiesen wurde, gab es das Internet noch gar nicht. Und niemand benutzte Handys. Ich bin mir absolut sicher, dass sie keine Ahnung hat, wie man eine Mail oder eine SMS verschickt.«
    Wieder eine Spur, die im Sande verlief. Philipp fühlte sich auf einmal unendlich müde. »Na, ich denke, da haben Sie Recht. Danke für Ihre Unterstützung.«
    »Bitte, gerne. Ich freue mich, dass Sie da waren. Frau Rose bekommt sonst nie Besuch.«
    »Hat sie keine Familie, die sich um sie kümmert?«
    »Es gibt keine Geschwister, ihr Exmann ist tot. Und ihre Freunde haben sie anscheinend auch vergessen.« Sie seufzte. »So ist das in unserer Gesellschaft. Wenn man nicht mehr richtig funktioniert, ist man abgeschrieben.«
    Philipp nickte, obwohl er genau wusste, dass das nicht stimmte. Irgendjemand da draußen hatte Annette Rose ganz und gar nicht vergessen.
    Im Auto sah er, dass auf beiden Handys angerufen worden war. Frau Klopp hatte versucht, ihn über die offizielle Nummer zu erreichen. Moritz’ Handynummer war auf dem Kartentelefon.
    Er meldete sich zuerst im Büro. »Ich hab hier eine Rechnung, aus der ich nicht schlau werde«, sagte Frau Klopp.
    »Was für eine

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