Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morgen wirst du sterben

Morgen wirst du sterben

Titel: Morgen wirst du sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gina Mayer
Vom Netzwerk:
Strähnen durchzogen. Sie starrte auf ihre Hände und blickte nicht auf, als Silke mit Philipp den Raum betrat.
    »Frau Rose, Ihr Besuch ist jetzt da«, sagte die Sozialpädagogin. Ihre Stimme hatte sich verändert, sie sprach nun sehr behutsam und leise.
    Philipp blieb unsicher auf der Türschwelle stehen. Ein unbedachter Schritt, ein falscher Ton – und die Frau würde aufstehen und weglaufen wie ein scheues Tier, zumindest bildete er sich das ein.
    »Ich lasse Sie jetzt alleine. Ist das in Ordnung, Frau Rose?« Die Frau rührte sich nicht, ihr Blick war immer noch starr auf ihre Hände gerichtet.
    »Ich bin im Büro, erste Tür links im Flur, wenn was ist«, sagte Silke und dann war sie weg.
    Und Philipp war allein. Allein mit der Irren, die einmal mit seinem Vater befreundet gewesen war und die vielleicht etwas mit seinem Verschwinden zu tun hatte. Und hatte keine Ahnung, wie er das Gespräch beginnen sollte. Er hätte sich vorher etwas zurechtlegen sollen, ein paar Worte, mit denen er das Gespräch beginnen konnte, eine Erklärung, irgendetwas. Aber er hatte ja nicht gewusst, was ihn erwartete. Er hatte keine Ahnung von geistesgestörten Menschen.
    »Frau Rose? Können Sie mich hören?«, begann er vorsichtig. So ein Blödsinn, dachte er. Natürlich konnte sie ihn hören, sie war verwirrt, nicht taub.
    Aber es wirkte, endlich hob sie den Kopf. »Ich höre dich«, sagte sie.
    Sie war wunderschön. Ein schmales Gesicht mit hellen Augen und hohen Wangenknochen, der Mund groß und geschwungen, die grau-blonden Haare fielen ihr in sanften Wellen auf die Schultern. Ein ausdrucksstarkes Gesicht, ein Gesicht, das man nicht vergaß und das Philipp dennoch vertraut vorkam. Wie eine alte Liebe.
    »Jochen«, sagte die Frau und lächelte. »Ich wusste, dass du mich finden würdest.«
    Und Philipp widersprach nicht, sondern setzte sich auf einen Sessel, der Frau gegenüber, sodass ihre Knie sich fast berührten. Es war keine Taktik, dass er sich so direkt zu ihr setzte und dass er seinen Namen verschwieg. Er wollte ihr nah sein. Er wollte dieses Lächeln nicht zerstören.
    »Ich habe lange auf dich gewartet«, sagte die Frau.
    »Ich habe dich lange gesucht«, sagte Philipp und das war nicht gelogen.
    »Nimmst du mich jetzt mit? Gehen wir weg?«
    Philipp schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass das nicht geht.«
    Annette sah ihn an. Diese Augen. Ein helles Grün in einem grauen Ring. Er hatte das Gefühl, dass er schon tausendmal in diese Augen geblickt hatte.
    »Werner ist tot. Hast du das gehört?«
    Das schöne Gesicht zeigte keine Regung, es war, als habe sie ihn nicht gehört. Wie alt mochte sie sein, überlegte Philipp. Sein Vater war fünfundfünfzig, aber diese Frau schien deutlich jünger.
    »Ich bin hier nicht glücklich«, sagte Annette.
    »Annette.« Philipp streckte seine Hand aus und ergriff ihre. »Ich bin gekommen, um mit dir über früher zu reden. Über das, was damals geschehen ist.«
    Annette seufzte. »Wir sind zusammen zum See gefahren. Weißt du noch?«
    »Nein, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Erzähl es mir. Was haben wir am See gemacht?«
    Sie lächelte versonnen, ein wenig verschämt. »Liebe haben wir gemacht. Weißt du noch, der Geißschädel? Der Bauer hat uns mit der Mistgabel gejagt.«
    »Mit der Mistgabel?«
    Sie entzog ihm ihre Hand wieder. »Du hast alles vergessen.«
    So kam er nicht weiter. »Malst du noch?«, erkundigte er sich und fragte sich gleichzeitig, ob sie überhaupt jemals gemalt hatte. Sie war mit ihren spektakulären Installationen und Performances bekannt geworden. Tierblut auf nackten Männerkörpern. Eine Symphonie aus Flugzeugmotoren.
    Annette zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht.«
    Philipp hatte das Gefühl, dass sie sich wieder in sich selbst zurückzog. Wenn er sie erreichen wollte, musste er sich beeilen. Aber was konnte er sie noch fragen?
    »Gott spart das Unglück des Gottlosen auf für dessen Kinder«, sagte er. Keine Reaktion. Jetzt begann sie leise zu summen, er kannte die Melodie, aber er wusste nicht, welches Lied es war. Vielleicht ein Schlager, zu dem sie früher mit Jochen getanzt hatte.
    »Du hast mir gesagt, dass du mit mir an den See fährst. Aber du bist nicht gekommen«, murmelte sie.
    »Ich konnte nicht kommen.«
    Sie lächelte versonnen. Und wieder dieses Gefühl, dass er sie kannte, dass er sie schon oft angesehen hatte. Gab es das, dass ein Vater seine Erinnerungen auf seinen Sohn übertrug? Weitervererbte wie die Form der Ohrläppchen,

Weitere Kostenlose Bücher