Morgendaemmerung der Liebe
würden mir jetzt den Kopf abreißen, wenn sie wüssten, dass ich mir gerade ein Eheleben mit Jake zurechtreime, dachte Jessica, stieg aus der U-Bahn und drängte mit den anderen Berufspendlern zur Rolltreppe.
Der Wind hatte aufgefrischt, er wehte eisig um ihre Beine, während sie mit eiligen Schritten zu ihrem kleinen viktorianischen Haus hastete. Als sie es vor fünf Jahren mit der bescheidenen Summe, die ihr leiblicher Vater ihr hinterließ, gekauft hatte, war es völlig verfallen gewesen. Mit ihrem Geschick und Ideenreichtum hatte sie es zu einem Aushängeschild für ihr Geschäft gemacht.
Jessica öffnete die schwere Haustür aus glänzendem, dunklem Holz und schaltete das Licht an. Die hellen Farben und die prächtigen Stoffe, die sie für die Einrichtung gewählt hatte, ließen sie den düsteren Novemberabend sofort vergessen. Im Haus war es gemütlich, einladend und gleichzeitig elegant.
Wie jeden Abend, ging Jessica zuerst nach oben in ihr Schlafzimmer, um das strenge klassische Kostüm gegen etwas Bequemes auszutauschen. Hier herrschten zarte Gelbtöne und dunkles Blau vor. Tagesdecke und Vorhänge waren einheitlich aus dem gleichen Stoff gefertigt. Jessica hatte wochenlang in Londoner Geschäften gestöbert, um den Stoff zu finden, den sie sich vorstellte. Der Aufwand hatte sich gelohnt, sie war sehr zufrieden mit dem Resultat. Dieses Zimmer ließ auf eine sehr feminine, lustvolle Natur schließen – eine Eigenschaft, die viele Menschen nicht an ihr erkannten.
Während sie unter der Dusche stand, wurde ihr bewusst, dass ihr abendliches Ritual immer gleich verlief. Plötzlich schlich sich die Befürchtung ein, dass sie immer eingefahrener in ihren Gewohnheiten wurde – fast wie eine alte Jungfer. Sie verdrängte den Gedanken mit einem gleichgültigen Schulterzucken. Sie hatte ihr Leben im Griff, dazu brauchte sie keinen Mann.
In einem bequemen Hausanzug aus fließendem Stoff ging sie später hinunter in die Küche und bereitete sich ein kleines Abendessen zu. Das Tablett, beladen mit einem Teller mit Rühreiern und einem Becher frisch gebrühtem Kaffee, trug sie hinüber in das geräumige Wohnzimmer. Sie schaltete den Fernseher ein, setzte sich mit untergeschlagenen Beinen in den großen antiken Sessel und begann zu essen.
Hier, auf ihrem eigenen Territorium, konnte sie endlich entspannen, hier fühlte sie sich sicher. Sicher? Bei dem Wort runzelte sie unwillkürlich die Stirn. Wovor sollte sie Angst haben? Etwa vor Jake? Dafür bestand überhaupt kein Grund. Zugegeben, er hatte sie manipuliert, jetzt war sie gezwungen, über die Weihnachtstage nach Hause zu fahren. Aber das tat sie nicht seinetwegen. Jake hatte vermutlich keineswegs das Bedürfnis nach ihrer Gesellschaft. Vor ihm brauchte sie keine Angst zu haben, er hatte sehr deutlich gemacht, dass er nichts von ihr wollte.
Nein, sie selbst war es, vor der sie sich fürchtete, gestand sie sich zerknirscht ein. Davor, dass sie nicht mehr in der Lage sein würde, ihre Gefühle für ihn zu verbergen, wenn sie zu lange in seiner Nähe war. Das war auch der Grund, warum sie so selten nach Hause fuhr. Es hatte nicht das Geringste mit ihren Eltern zu tun. Alles hing nur damit zusammen, dass sie Jake nicht aus ihrem Herzen verbannen konnte, ganz gleich, wie sehr sie es auch versucht hatte.
Jessica überlegte gerade, ob sie früh zu Bett gehen und einmal wieder richtig ausschlafen solle, als es an der Tür klingelte. Irritiert runzelte sie die Stirn. Sie erwartete niemanden. Einen kurzen Moment hoffte sie, es sei Jake. Doch diesen Gedanken ließ sie nicht zu.
Es war nicht Jake. Amanda stand im schwachen Lichtkegel vor ihrem Eingang und bat flehentlich darum, hereinkommen zu dürfen. In einem Sekundenbruchteil gestand Jessica sich ein, dass sie enttäuscht war. Dann trat sie beiseite, um Amanda einzulassen. Amanda trug Jeans und Anorak und war völlig durchnässt. Das blonde Haar klebte ihr am Kopf. Hatte sie nicht gesagt, sie wolle mit ihrer Mutter nach London kommen, um Weihnachtseinkäufe zu machen? Jessica konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Mrs. Farmer ihre Tochter in ausgewaschenen Jeans und einem alten Anorak zum Shopping mitnehmen würde.
„Ich musste einfach kommen. Ich kann nirgendwo anders hin.“ Amandas schrille Worte wurden von dem heftigen Zittern gebremst, das sie durchfuhr. Jessicas anfängliche Verwunderung schlug in Sorge um. Das Mädchen schien kurz vor einem hysterischen Anfall zu stehen.
Behutsam führte sie
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