Morgendaemmerung der Liebe
zurück. An dem Abend, als sie aus seiner Wohnung geflohen war, hatte sie sich geschworen, dass sie nichts fühlen würde, wenn sie ihm begegnete. Nie wieder.
Die folgenden sechs Jahre waren hektisch und anstrengend gewesen. Im College hatte sie sich mit Ralph Howard angefreundet. Er war inzwischen ihr Geschäftspartner. Sie verstanden sich so gut, dass viele dachten, die beiden seien ein Paar. Doch tatsächlich war Ralph für sie der Bruder, den sie nie gehabt hatte. Die Beziehung zu ihm war viel freundschaftlicher als die Bewunderung, die sie früher für Jake empfunden hatte.
Die harte Arbeit hatte sich ausgezahlt: Ralph und sie waren mittlerweile äußerst erfolgreich und gern gesehene Gäste auf allen möglichen Veranstaltungen. Sie gaben ein schönes Paar ab, das war Jessica bewusst. Ralph war groß und blond, mit der Figur eines Basketballspielers. Und Jessica erachtete es nie als notwendig, den Irrtum klarzustellen, Ralph und sie seien ein Liebespaar. So hielt sie unerwünschte Verehrer ohne großen Aufwand auf Abstand.
Ralph selbst zeigte gelegentlich Neugier, was ihr Liebesleben – oder den Mangel daran – anbelangte, aber er respektierte ihre Privatsphäre. Über ihre Vergangenheit wusste er nichts, Jake hatte sie ihm gegenüber nie erwähnt. Beth und Richard hatten Ralph kennengelernt, als er Jessica zu Sarahs Taufe begleitet hatte. Auch Jake war als Pate dort gewesen. Doch außer jenem einen Moment, in dem er das Baby am Taufbecken gehalten und dann an Jessica als Patin übergeben hatte, hatte Jessica sich strikt von ihm ferngehalten.
In der Erinnerung daran zuckte ein müdes Lächeln um ihre Lippen. Wie peinlich musste es sein, wenn man als das erkannt wurde, was man so unbedingt verbergen wollte? Egoistisch, geldgierig, kalt. Doch Jake hatte sich nie anmerken lassen, ob es ihm unangenehm war, dass Jessica ihn durchschaut hatte. Er hatte sie weiterhin mit diesem spöttischen Blick angesehen. Diese unglaubliche Arroganz! Hatte er sich je überlegt, was wohl passiert wäre, wenn sie zu Mark gegangen und ihrem Stiefvater alles eröffnet hätte? Dass sein geliebter Sohn die Stiefschwester verführt und ihr die Ehe versprochen hatte, nur weil er auch die andere Hälfte des Vermögens seines Vaters in die Hände bekommen wollte?
Doch das hatte sie nicht über sich gebracht. Mark und auch ihre Mutter beteten Jake an. Es hätte ihnen das Herz gebrochen, die Wahrheit zu erfahren. Und so hatte Jessica geschwiegen, hatte sich ein neues Leben aufgebaut und sich selbst und jeden anderen davon überzeugt, dass ihr nur Karriere und Erfolg wichtig waren.
Die späte Herbstsonne versank langsam am Horizont. Sechs Jahre war es jetzt her, und noch immer war sie nicht darüber hinweg. Sie hatte lediglich erreicht, den Schmerz zu ignorieren und der restlichen Welt vorzumachen, nichts könne ihr etwas anhaben.
Andere Frauen waren über ein ähnlich schockierendes Erlebnis hinweggekommen, hatten andere Männer kennengelernt, neue Beziehungen begonnen. Warum war es ihr nie gelungen, jemanden zu finden, der Jakes Platz in ihrem Herzen einnehmen konnte?
Vielleicht, weil der Betrug für sie so schwer wog. Jake war nicht nur ihre erste Liebe und ihr erster Liebhaber, sondern er war gleichzeitig der Mensch gewesen, der ihr am nächsten gestanden hatte. Mit seinem Betrug war ihr nicht nur der Liebhaber genommen worden, sondern auch der Bruder, der Freund und der Fels in der Brandung, auf den sie sich jederzeit hatte verlassen können.
Sie hatte gewusst, dass er bereits andere Freundinnen vor ihr gehabt hatte. Schließlich war er acht Jahre älter als sie. Er hatte die Universität absolviert, ein eigenständiges Leben geführt. Und außerdem war er ein Mann mit einer enormen sinnlichen Anziehungskraft.
Die arme Frau, die ihn heiratet, dachte sie voller Abscheu. Er würde ihr nicht lange treu bleiben, vor allem nicht einer naiven Neunzehnjährigen.
Rückblickend erkannte sie, dass er sich immer zurückgenommen hatte, wenn sie sich liebten, als sei ihre Unerfahrenheit eine Prüfung für ihn. Damals hatte sie es natürlich nicht bemerkt, sie war viel zu glücklich darüber, dass er ihre Gefühle erwiderte. Allein ein sanftes Streicheln von ihm, und sie hätte vor Glück jubeln mögen. In ihrer Naivität hatte sie fest angenommen, für ihn müsse es ebenso sein. Er war so geduldig gewesen, so zärtlich und behutsam … Aber natürlich, das musste er ja auch sein, dachte sie. Er wollte sie schließlich nicht verschrecken. Und
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