Morgengrauen
blickte Müller mit müde lächelnden Augen an. Unter diesen hatten sich tiefe dunkle Ränder gebildet. Und das wollte etwas heißen, denn Winterhalter war aufgrund seines Bauernhofs nun wirklich gewohnt, mit wenig Schlaf auszukommen.
Einen Großteil der Nacht hatten die beiden Ermittler zusammen mit den anderen Beamten der Soko »Freibad« zusammengesessen und über einen sicheren Mordfall sowie einen möglichen zweiten theoretisiert.
Den Rest der Zeit hatte sich Winterhalter mit seinen Kollegen von der Spurensicherung getroffen, da der Polizeidirektor darauf bestanden hatte, dass man bereits am nächsten Morgen Informationen für die Presse parat haben müsse. Gerade machte sich Winterhalter erneut zu den Spurensicherern auf.
Der zweite Todesfall innerhalb weniger Tage rund um die Schwenninger Fachhochschule würde für einige Unruhe in der Öffentlichkeit sorgen. Müller malte sich schon die Schlagzeilen aus: »Frauenmörder führt Kripo an der Nase herum« oder »Schwarzwälder Morde – Provinzpolizei tappt immer noch im Dunkeln«.
Eine halbe Stunde später klopfte es an der Tür des sterilen Besprechungszimmers, das unter dem kalten Licht der Leuchtstoffröhren noch trostloser wirkte als sonst.
O je – der Polizeidirektor trat ein. Im Schlepptau hatte er einen grau melierten, bebrillten, schlanken Herrn mittleren Alters.
Der Direktor hätte ihnen den Begleiter gar nicht erst vorstellen müssen. Allen in der Runde war er ein Begriff: Professor Dr. Erich Kollnau – die Koryphäe für Kriminalpsychologie an der Polizeifachhochschule Villingen-Schwenningen. Müller und die meisten Kollegen kannten ihn nicht nur von den Vorlesungen während ihrer Kommissarsausbildungen, sondern auch aus den Medien. Dort war er vor allem bei der Boulevardpresse ein beliebter und fast wöchentlich in Erscheinung tretender Kriminalexperte.
»Meine Herren«, machte der Polizeidirektor eine strenge Miene. »Ich habe gerade einen Anruf vom Innenminister in Stuttgart erhalten. Der Fall hat höchste Priorität und braucht jegliche erdenkliche Unterstützung.«
Müller nahm ein Taschentuch mit seinen in gotischer Schrift gestickten Initialen – ein handgefertigtes Geburtstagsgeschenk seiner geschickten Sekretärin Hirschbein. Damit rieb er die runden Gläser seiner Brille, danach nahm er sich seine alte silberne Schwarzwälder Taschenuhr vor. Er ahnte, was nun folgen würde.
»Jetzt gilt es, die Ressourcen zu bündeln. Deshalb habe ich Professor Kollnau gebeten, Sie bei Ihrer Arbeit zu unterstützen. Wie Sie wissen, ist er Profiler. Meine Herren, der Minister und auch ich erwarten umgehend konkrete Ergebnisse.«
Müller kochte innerlich. War es doch der Polizeidirektor gewesen, der sich vor der Presse so weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Von wegen Raubmord und Einzeltat … Ohnehin hätte der Hauptkommissar es vorgezogen, die Medien weiter hinzuhalten.
Gerade als der Polizeidirektor das Besprechungszimmer verlassen wollte, um einige wichtige Telefonate zu führen, wie er erklärte, traten Hauptkommissar Winterhalter und zwei Kollegen durch die immer noch offene Eingangstür.
»Und, Winterhalter? Haben wenigstens Sie jetzt interessante Erkenntnisse für uns?«, fragte der Polizeidirektor und rückte seine akkurate, quer gestreifte Krawatte zurecht. Im Gegensatz zu den Kollegen hatte er die Nacht im Bett verbracht.
»Des kann mer scho sage«, antwortete Winterhalter. »Spure vo äußerliche Gewalteinwirkunge habet mir nämlich nit entdeckt.«
Winterhalter hatte seine Müdigkeit von vorhin nun offenbar überwunden. Mit seiner sonnengegerbten Haut wirkte er jetzt wie eine Schwarzwälder Ausgabe des Bergidols Luis Trenker in jüngeren Jahren. Ohne seine Wanderschuhe erschien er nie zum Dienst. Womöglich machte die gesunde Luft den gewissen Unterschied aus – auch dass er sich so schnell von seiner Müdigkeit erholte, überlegte Müller. Wie sonst war es zu erklären, dass Winterhalter in seinen fast fünfundzwanzig Dienstjahren nicht einen Tag krank gewesen war?
Abgesehen davon schien Müller durch das eben Gesagte recht erleichtert: »Heißt das, dass die Frau eines natürlichen Todes gestorben ist und wir es nur mit einem einzigen Mordfall zu tun haben?«
Doch Winterhalter schüttelte den Kopf. »Leider nit. Mir hän de Mageinhalt vo de Dote analysiert. Und do sind mir auf Spure vom Blaue Eise’hut g’stoße. Des isch eigentlich ä wunderschöne blaue Blume …«
»Winterhalter, wir sind hier nicht im
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