Morgengrauen
Schwarzwaldverein. Kommen Sie zum Punkt«, unterbrach ihn der Polizeidirektor schroff.
»So schön sie au isch, so giftig isch sie halt«, kam der Beamte der Aufforderung kurz und bündig nach.
»Sie meinen, die zweite Tote wurde vergiftet?«, fragte der Direktor.
»Des isch wohl a’zunehme. Es sei denn, die Dote hät sich selbscht vergiftet«, schränkte Winterhalter ein und fuhr fort: »Des isch aber recht unwahrscheinlich. Da hätte es vermutlich ruhigere Orte gegebe, um sich ins Jenseits zu befördern. Außerdem hat sich des Opfer dann wohl eine Giftart ausg’sucht, die schneller wirkt. Beim Blaue Eise’hut dauert das Ganze bei entsprechender Dosierung scho einige Minute. En qualvolle Dod.«
»Wann und wie ist sie also vergiftet worden?« Der Polizeidirektor blickte ungeduldig in die Runde.
Winterhalter kam möglichen Spekulationen seines Kollegen Müller zuvor: »Mir hän uns do au’ scho Gedanke g’macht. Mit äm Klowasser isch se wohl kaum vergiftet worde. Mir nehmet an, dass ihr jemand des Gift in ä Getränk g’schüttet hät.« Winterhalter setzte sich jetzt auf einen der freien Stühle und wühlte in seinen Unterlagen. Die gerade aufgehende Morgensonne schien ihm direkt ins Gesicht.
Jetzt war die Stunde des Profilers gekommen: »Was in der Tat auffällt, ist die Tatsache, dass sich die Opfercharaktere ähneln und wir auch vergleichbare äußere Merkmale konstatieren können. Beide waren brünett und schlank. Beide waren Dozentinnen, arbeiteten in der Fachhochschule, und das sogar im selben Büro. Das könnte auf einen Täter hindeuten, der von einer Frau abgewiesen worden ist und sich jetzt in blindem Hass an ähnlich aussehenden Frauen mit hohem Bildungsgrad rächt. Dass er selbst im Umfeld der Hochschule tätig ist, ist dabei sehr wahrscheinlich.«
Der Polizeidirektor setzte eine zufriedene Miene auf. Müller aber schüttelte genervt den Kopf. Beim ersten Mord hatten sie ja bereits erfolglos im Umfeld des Opfers ermittelt. Außerdem sprach etwas eindeutig dagegen.
»Lieber Professor Kollnau.« Müller setzte seine Brille wieder auf und faltete die Hände. »Blinder Hass scheint als Motiv beim zweiten Mord wohl kaum vorzuliegen. Für den ersten Mord ließe ich das gelten, da wurde Verena Böck auf recht brutale Weise ertränkt. Doch ein Giftmord passt mir da nicht so recht ins Muster. Ich halte es sogar für möglich, dass dies das Werk von zwei Tätern war.«
Kollnau widersprach: »Bei meinen Studien in den Staaten bin ich immer wieder auf solche Fälle gestoßen. Wir haben es mit einem intelligenten Täter zu tun – darauf deutet auch der universitäre Hintergrund der Morde hin. Enormer Hass muss sich nicht immer in roher Gewalt ausdrücken. Wenn ich an den MacKenzie-Fall 1983 in Arkansas denke. Oder an die Wesson-Brüder in Illinois vor einigen Jahren …«
Müller verdrehte die Augen. Die Fähigkeiten des Profilers waren unbestritten, doch manches Mal lehnte er sich recht weit aus dem Fenster.
Der Polizeidirektor war jedenfalls hellauf von Kollnau begeistert. Kein Wunder: Jedes Mal, wenn dieser im Fernsehen auftrat, wurde die »Fachhochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen« erwähnt – und in diesem Glanz sonnte auch er sich etwas.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich um einen Mann mit hoher Formalbildung handelt«, monologisierte Kollnau weiter. »Zudem beweist er große Flexibilität und kann sich unauffällig bewegen. Fünfunddreißig bis fünfzig Jahre, wahrscheinlich Deutscher. Nicht völlig unsportlich, sonst wäre er beim ersten Mord im Freibad aufgefallen. Ein eher durchschnittliches Äußeres. Jemand, der Probleme mit Frauen hat. Möglicherweise ist er auch schon in früheren Beziehungen gewalttätig geworden, obwohl das eigentlich nicht zu seinem Umfeld passt … Er hat ein nicht mehr zeitgemäßes Frauenbild. Wenn eine Frau nicht das tut, was er sich von ihr verspricht, kann er nicht damit umgehen. Und sollte es sich tatsächlich um Blauen Eisenhut handeln, würde ich sagen: ein Arzt oder zumindest jemand, der in seinem unmittelbaren Umfeld einen solchen hat – was wieder auf eine höhere Formalbildung hindeutet …«
Noch bis zum späten Vormittag diskutierten die Beamten über die Morde. Gegen elf gingen sie endlich nach Hause, um nach ein paar Stunden Schlaf die Arbeit am Nachmittag wiederaufzunehmen. Nicht jedoch der Ö.
16. CHIFFRE SC – 04873
Klaus Riesle zog ein mit kleinen dunklen Flecken übersätes Stück Papier aus dem Faxgerät der
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