Morgenlied - Roman
habe es vor mir hergeschoben, seit du wieder in der Stadt bist. Ich kann nicht mehr länger warten. Gib mir fünf Minuten, fünf Minuten, und danach belästige ich dich nie mehr. Ich weiß, dass du nur ins Bowling-Center kommst, wenn ich frei habe. Und ich verstecke mich, wenn du zu Cal kommst. Ich belästige dich nicht, ich gebe dir mein Wort darauf.«
»Dein Wort war immer schon so viel wert.«
Bill wurde rot. »Etwas anderes habe ich nicht. Fünf Minuten, und du bist mich los.«
»Ich bin dich schon jetzt los.« Gage zuckte mit den Schultern. »Na gut, fünf Minuten.«
»Okay.« Bill räusperte sich. »Ich bin Alkoholiker. Ich bin seit fünf Jahren, sechs Monaten und zwölf Tagen trocken. Ich habe zugelassen, dass der Alkohol mein Leben bestimmte. Ich habe ihn als Vorwand genommen, um dich zu verletzen. Ich hätte mich um dich kümmern sollen. Du hattest ja sonst niemanden.« Er schluckte. »Ich habe dich mit den Händen, den Fäusten, dem Gürtel
geschlagen, und wenn du dich nicht gewehrt hättest, hätte ich dich weiter verprügelt. Ich habe dir Versprechungen gemacht, und ich habe sie gebrochen. Immer wieder. Ich war kein Vater für dich. Ich war kein Mann.«
Seine Stimme bebte, und er wandte den Blick ab. Gage schwieg. Bill holte tief Luft, dann sah er seinen Sohn wieder an. »Ich kann nicht mehr zurück und die Situation ändern. Ich könnte dir sagen, dass ich es bis an mein Lebensende bereuen werde, aber das würde dir auch nichts nützen. Ich werde dir auch nicht versprechen, dass ich nicht wieder trinken werde, aber ich werde heute nicht trinken. Wenn ich morgen aufwache, werde ich nicht trinken. Und so geht es Tag für Tag. Wenn ich nüchtern bin, dann weiß ich, was ich dir angetan habe, dass ich mich als Mann und als Vater schämen muss. Deine Mutter muss geweint haben, wenn sie es von oben gesehen hat. Ich habe sie im Stich gelassen. Ich habe dich im Stich gelassen. Ich bereue es bis zu meinem Tod.«
Bill holte noch einmal tief Luft. »Das war es, was ich dir sagen wollte. Und dass du etwas aus dir gemacht hast. Dass du es ganz alleine geschafft hast.«
»Warum?« Wenn sie sich wirklich das letzte Mal gegenüberstanden, dann wollte Gage jetzt die Antwort auf die einzige Frage wissen, die ihn sein Leben lang gequält hatte. »Warum warst du so zu mir? Der Alkohol war doch nur der Vorwand. Warum also?«
»Ich konnte ja Gott nicht verprügeln.« Bills Augen trübten sich. »Ich konnte Gott nicht mit meinen Fäusten schlagen. Aber du warst da. Irgendjemandem musste
ich die Schuld geben, irgendjemanden musste ich bestrafen.« Bill blickte auf seine Hände. »Ich war nichts Besonderes. Ich konnte Sachen reparieren, und harte Arbeit machte mir nichts aus, aber ich war nichts Besonderes. Dann sah sie mich an. Deine Ma hat einen besseren Menschen aus mir gemacht. Sie liebte mich. Ich staunte jeden Tag darüber, dass sie mich liebt. Sie... ich habe noch zwei Minuten, oder?«
»Ja, red weiter.«
»Du musst wissen... Sie war... wir waren... so glücklich, als sie mit dir schwanger war. Du kannst dich wahrscheinlich nicht daran erinnern, wie es war... vorher. Aber wir waren glücklich. Cathy... Deine Ma hatte Probleme mit der Schwangerschaft, und du bist so schnell auf die Welt gekommen. Wir haben es noch nicht einmal mehr ins Krankenhaus geschafft.«
Bill wandte erneut den Blick ab, und in seinen Augen stand Trauer. »Hinterher hat der Arzt gesagt, sie sollte besser keine Kinder mehr bekommen. Das war okay, ich fand das in Ordnung. Wir hatten ja dich, und du hast genauso ausgesehen wie sie. Ich weiß, dass du dich nicht erinnern kannst, aber ich liebte euch beide mehr als alles andere auf der Welt.«
»Nein«, sagte Gage. »Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Ja. Nach einer Weile wollte sie noch ein Kind. Sie wollte unbedingt noch ein Baby. Sie sagte: >Sieh doch, Bill, sieh doch nur unseren Gage an. Ist er nicht wunderschön. Er braucht einen Bruder oder eine Schwester.< Und na ja, ich ließ mich überreden. Sie war während der
Schwangerschaft vorsichtig und passte gut auf sich auf, sie tat alles, was der Arzt sagte. Aber es ging schief. Sie kamen und holten mich von der Arbeit und...«
Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich die Tränen ab. »Ich verlor sie und das kleine Mädchen, mit dem sie schwanger war. Jim und Frannie, Jo und Brian, sie versuchten alle zu helfen, wo sie nur konnten. Ich begann zu trinken, zuerst nur ab und zu, um den Schmerz zu betäuben. Aber es reichte
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