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Morgenlied - Roman

Morgenlied - Roman

Titel: Morgenlied - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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nicht, deshalb trank ich immer mehr.«
    Er steckte das Taschentuch wieder in die Tasche. »Ich begann zu denken, dass ich an ihrem Tod schuld war. Ich hätte mich sterilisieren lassen sollen, ohne es ihr zu sagen, dann wäre sie jetzt noch am Leben. Weil der Gedanke so wehtat, trank ich noch mehr. Und dann dachte ich, dass sie noch am Leben wäre, wenn wir dich nicht bekommen hätten. Dann wäre alles mit ihr in Ordnung gewesen, und sie wäre noch da, wenn ich morgens aufwachte. Dir die Schuld zu geben tat nicht so weh, also redete ich mir ein, alles wäre deine Schuld. Ich verlor meinen Job, weil ich betrunken war, aber ich drehte es so, dass ich ihn aufgeben musste, weil ich mich jetzt alleine um dich kümmern musste. Alles, was schiefging, lag an dir, und ich konnte mich betrinken, meine Wut an dir auslassen und brauchte der Wahrheit nicht ins Gesicht zu sehen. Aber es war natürlich niemand schuld, Gage.« Er stieß einen Seufzer aus. »Niemand war schuld. Es ist einfach nur alles schiefgegangen, und sie ist gestorben. Als sie starb, hörte ich auf, ein Mann zu sein. Ich hörte auf, dein Daddy zu sein. Deine Ma hätte
mich nicht mehr angeschaut. Ich bitte dich nicht um Verzeihung. Ich bitte dich auch nicht, alles zu vergessen. Ich bitte dich nur, mir zu glauben, dass ich weiß, was ich getan habe, und dass es mir leidtut.«
    »Ich glaube dir, dass du weißt, was du getan hast, und dass es dir leidtut. Deine fünf Minuten sind schon lange vorbei.«
    Bill nickte und wandte sich zum Gehen. »Ich werde dich nicht mehr belästigen«, sagte er mit dem Rücken zu Gage. »Wenn du Cal besuchen oder ein Bier im Grill trinken willst, brauchst du keine Angst zu haben, dass du mir begegnest.«
    Als Bill die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb Gage reglos stehen. Wie sollte er sich jetzt fühlen? Machte es einen Unterschied? Sein Vater konnte noch so oft >Es tut mir leid< sagen, die Jahre voller Angst und Schmerzen konnte er nicht auslöschen. Scham und Kummer waren dadurch nicht aufgehoben.
    Der alte Mann musste es sich von der Seele reden, dachte Gage und ging wieder in die Küche. Das war in Ordnung. Jetzt war es vorbei zwischen ihnen.
    Durch das Fenster sah er, dass Cybil auf der Terrasse saß und Tee trank. Er trat hinaus.
    »Warum zum Teufel hast du ihn hereingelassen? Hat das auch was mit deiner guten Erziehung zu tun?«
    »Vermutlich. Ich habe mich schon dafür entschuldigt.«
    »Heute ist anscheinend der Tag für Entschuldigungen.« Die Wut auf seinen Vater, die er bis eben unterdrückt hatte, flammte auf. »Du sitzt hier draußen und
denkst, ich sollte vergeben und vergessen. Der arme alte Kerl trinkt nicht mehr und versucht doch nur, mit seinem einzigen Sohn, den er fast totgeprügelt hat, wieder ins Reine zu kommen. Es lag ja alles nur am Alkohol, und Alkoholismus ist eine Krankheit, die er sich eingefangen hat wie Krebs. Jetzt kämpft er dagegen von Tag zu Tag an, und deshalb ist alles vergeben und vergessen. Ich sollte die Angeln aus dem Keller holen und demnächst mal mit ihm fischen gehen. Hat dein Vater dir jemals mit der Faust ins Gesicht geschlagen, bevor er sich das Gehirn weggepustet hat?«
    Er hörte, wie sie zitternd die Luft ausstieß. Aber ihre Stimme war ruhig, als sie antwortete. »Nein, das hat er nicht.«
    »Hat er dich jemals mit dem Gürtel blutig geschlagen?«
    »Nein, hat er nicht.«
    »Dann würde ich sagen, es mangelt dir einfach an Erfahrung zu denken, dass ich mich mit meinem Vater wieder versöhnen könnte.«
    »Da hast du wahrscheinlich recht. Aber du legst mir Worte in den Mund, die ich gar nicht sagen will. Und das gefällt mir nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass du nach dem Gespräch mit deinem Vater aufgewühlt und gereizt bist, deshalb werde ich dich auch in Ruhe lassen. Ich werde jetzt lieber gehen, damit du deinen Wutanfall alleine austoben kannst.«
    An der Tür jedoch drehte sie sich um. »Nein, ich gehe nicht. Willst du wissen, was ich denke? Bist du überhaupt daran interessiert, meine eigene Meinung zu hören,
oder willst du lieber deine Gedanken auf mich projizieren?«
    Er machte eine abfällige Geste mit der Hand. »Na los.«
    »Ich glaube, du hast keineswegs die Verpflichtung, irgendjemandem zu verzeihen, irgendetwas zu vergessen. Du brauchst die Jahre des Missbrauchs nicht zu verdrängen, nur weil dein Peiniger jetzt trocken ist und seine Taten bereut. Ich glaube sogar, dass Menschen, die das mit einem Fingerschnippen können, entweder Lügner sind oder dringend

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