Morgenrötes Krieger
Geschoß, das ihn traf. Er betrat den Raum. Auf dem Tisch lag die Armbrust – in ihre Einzelteile zerlegt. Er nahm sie und hockte sich neben den Tisch. Dann setzte er sie zusammen, spannte und lud. Der Köcher mit den Eisenpfeilen war ebenfalls noch da. Als er fertig war, rannte er zurück zur Halle, wo ihn die anderen schon e r warteten. Zusammen gingen sie Richtung Gebäudeau s gang. Nichts geschah, ungehindert erreichten sie die Tür, die nach draußen führte: verdächtig weit geöffnet. Hatha wollte schon ins Freie treten, doch Han zog ihn zurück. Im selben Augenblick nagelte eines jener nadelförmigen Geschosse Hathas Mantelsaum an den Türrahmen. Le i chenblaß im Gesicht wich er zurück.
Flach auf den Boden gedrückt, schlängelte sich Han zur Türöffnung. Draußen war es völlig dunkel – wie es zu erwarten war. Er konnte von seinem Platz aus den Schützen nicht sehen, ohne sich dabei selbst zu gefäh r den. Aber der Ecke nach zu urteilen, wo das Geschoß eingeschlagen war, mußte die Richtung innerhalb seines Gesichtsfeldes liegen. Han robbte hinüber zu Liszendir; sie kniete sich neben ihn.
„Kannst du blitzartig die Türöffnung durchqueren, so schnell, daß du von draußen unmöglich getroffen werden kannst?“
Sie nickte zustimmend und spannte ihre Muskeln. Han machte sich bereit. „Jetzt!“ flüsterte er. Liszendir durc h sprang mit einem Riesensatz die Türöffnung; ein Nade l geschoß schlug hinter ihr ein, verfehlte sie jedoch weit. Sie hatten zu langsam reagiert. Han dachte daran, daß er selbst das Ziel hätte sein können. Aber nun sah er den Heckenschützen. Er zielte sorgfältig und drückte ab: ein Schrei, dann eine Gestalt, die sich hochwarf, schreiend nach vorn taumelte und fiel. Bevor er ganz verstummte, kam ein zweiter von rechts herbeigerannt, um zu helfen. Han spannte erneut die Armbrust und schoß ein zweites Mal. Ohne ein Laut brach er zusammen und lag regung s los – auch der erste gab keinen Laut mehr von sich. Es war seltsam: Sie töteten, aber sie selbst starben beim leichtesten Stoß oder bei der kleinsten Verwundung. Er hätte geschworen, daß der Schuß nicht tödlich war. K o misch … Er erhob sich, hetzte hinaus in die Nacht und schaute sich um. Liszendir folgte ihm.
Es war eine klare, kalte Nacht, ohne Schnee und Wo l ken; frostig blaugetöntes Sternenlicht erhellt e schwach die Panona ebene. Nur mit halbem Auge nahm er eine flüchtige Bewegung wahr. Er wirbelte herum und sah einen weiteren Pseudo-Ler, der direkt auf ihn angelegt hatte. Blitzartig ließ er sich nach vorn fallen, wußte, daß es seine einzige Chance war. Der erste Schuß ging vo r bei; Han blieb in Bewegung, versuchte dabei die Ar m brust neu zu laden, ahnte im gleichen Augenblick, daß er es nicht schaffen würde. Er dachte an nichts – nur an di e sen plötzlichen, schmerzhaften Treffer. Aber sein Gegner nahm den Vorteil nicht wahr, brach statt dessen aus se i ner Deckung, rannte los und versuchte zu entkommen. Ganz klar! Er war der letzte. Bevor Han laden und schi e ßen konnte, vollführte die Gestalt plötzlich einen wilden Satz, schlug auf den hartgefrorenen Boden und wälzte sich zuckend und um sich schlagend in Todeskrämpfen. Dann bäumte er sich noch einmal auf und lag still. Han drehte sich um. Dicht hinter ihm stand Liszendir, eine Druckpistole in der Hand, das Gesicht im fahlen, schw a chen Licht schmerzhaft verzerrt.
Sie schauten sich lange an, dann sagte sie mit g e dämpfter Stimme: „Ich habe ihn damit in Schach geha l ten, um dir Zeit zum Laden zu geben. Du hättest ihn e r wischt, wenn er versucht hätte zu schießen, da er zw i schen uns beiden wählen mußte. Aber statt dessen rannte er weg. Er wäre außer Schußweite gekommen, deshalb habe ich es getan. Irgendwann einmal muß jedes Gesetz gebrochen werden. Unter gewissen Umständen ist keines ohne Ausnahme – jetzt habe ich einer solchen von Ang e sicht zu Angesicht gegenübergestanden.“ So locker sie auch die Worte hervorstieß, man spürte deutlich, welch hohen Preis sie dafür bezahlt hatte. Sie, die kühl Überl e gende, die Unerschütterliche, die in ihrer Jugend jegl i cher Leidenschaft entbehrt hatte und ihr aus dem Weg gegangen war – sie hatte zwei Verbote gebrochen. Han berührte innerlich bewegt ihre Schulter. Sie wandte sich ab, schaute aber zurück. „Und von nun an und für alle Zeiten werde ich Liszendir die Eidesbrecherin sein. Ni e mand sonst ist so weit gegangen.“ Han konnte ihr nichts darauf
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