Morgenrötes Krieger
r nehmen, aber das würde Jahre dauern.“
Usteyin blickte auf das ganze komplizierte Instrume n tarium mit einer Mischung aus Neugier und – unglau b lich! – zustimmender Anerkennung. Sie beobachtete g e nau, als hätte sie im Kopf eine schwierige Rechenaufg a be zu lösen. Dann wandte sie sich abrupt zu Han und meinte: „Warum hast du mir nicht schon früher erzählt, daß du einen Geschichtensammler besitzst ? Du hast ein Geheimnis für dich behalten und gabst vor, du wüßtest nichts von dem meinigen. Warum hast du das getan?“
Han blickte völlig verständnislos zurück. „Wovon sprichst du, Usteyin? Was für einen Geschichtensam m ler ? Ich habe kein solches Gerät, wie du es besitzt. Ich verstehe nicht, was du meinst.“ Seine Stimme klang mu t los und er war wie vor den Kopf geschlagen.
Sie ging hinüber zu ihrer eingerollten Decke und zog jene kleine Tasche daraus hervor, in der sie ihre Habs e ligkeiten aufbewahrte. Sie machte sie auf und brachte jenes komplizierte Drahtgeflecht zum Vorschein, in das sie angeblich ihre Geschichten erzählte, und bei dessen Handhabung Han sie schon einmal beobachtet hatte. Sie klappte es vollständig auseinander. Han schaute genau hin, versuchte in dem Gewirr irgendeine Ordnung zu entdecken. Doch es war anscheinend in der Tat nichts anderes als ein willkürliches Geflecht aus haarfeinen Si l ber- und Platindrähten, verschlungen in Hunderten von unendlich kleinen Perlen oder Kügelchen. Stolz hielt sie es ihm hin, ließ es aber nicht zu, daß er es berührte, als er versuchen wollte, es näher in Augenschein zu nehmen.
„Da hinein“, sagte sie in einem Ton, als ob sie einem unverständigen Kinde etwas ganz Selbstverständliches erklären würde, „erzähle ich, wie gesagt, meine G e schichten. Wir Zlats besitzen alle einen. Deiner – ich weiß es – ist auch ein Geschichtensammler, aber ein ziemlich großer. Du kannst ihn nicht mit dir herumtr a gen. Was stimmt mit ihm nicht? Warum gibt er keine Antwort? Kann ich dir nicht sagen, was du wissen willst?“ Lebhafte Begeisterung ersetzte die Ungehalte n heit in ihrem Tonfall.
„Erklär es mir noch mal, Usteyin. Langsam! Ich b e ginne zu verstehen, was es ist.“
Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie Spinnweben vom Gesicht wischen: eine Geste der Ungeduld. Wie könnte er dies hier nicht verstehen, er, der doch bisher so vieles verstanden hatte: sie selbst und auch andere. „Di e ser hier gehört mir. Ich habe ihn gemacht, ihn aufgez o gen, als ich noch sehr jung war, als kleines Mädchen, bei meiner Mutter. Wir alle haben einen. Die Zlats. Sonst niemand. Ich weiß es. Wenn ich mir die Zeit vertreiben will, wenn ich eine Geschichte erzählen will, dann nehme ich ihn, so wie jetzt.“ Sie hielt ihn in einer eigentüml i chen Weise mit der linken Hand. „Ich lasse mir auch G e schichten erzählen – etwa so.“ Sie vollführte eine schne l le Folge flinker Bewegungen mit der rechten Hand, w o bei sie das Drahtgeflecht kaum berührte. Einige der Pe r len veränderten ihre Position. Die geschickten und sich e ren Fingerbewegungen waren fast zu schnell, um ihnen folgen zu können. Dann machte sie irgend etwas anderes mit der linken Hand, das Ding reagierte, kaum wah r nehmbar, veränderte sich und wurde – zu einem völlig anderen Flechtwerk. „Kannst du es nicht sehen?“ fragte sie. „Das war die Geschichte von Koren und Jolise. Es waren zwei Zlats, die eine Liebesaffäre miteinander ha t ten; sie stahlen die Juwelen und flohen …“ Sie unte r brach sich und musterte Hans Gesicht. „Nein, du siehst es nicht, stimmt’s?“ Ihre Begeisterung schlug in Enttä u schung um.
Han starrte hilflos auf das Flechtwerk. „Nein, ich kann es nicht sehen. Ich weiß nicht, wie. Wie viele Geschic h ten sind da drin?“ Er hatte den Eindruck, daß es so etwas wie ein symbolisches Gedächtnis war.
Doch er irrte sich. Usteyin erklärte: „Es gibt keine Grenze, du kannst so viele Geschichten eingeben, wie du willst. Er ist mir gut gelungen. Ich weiß es. Mag sein, daß ich in meiner Klasse nur zur vierten Kategorie zähle, aber mein Geschichtensammler ist der beste, den je ein Zlat gemacht hat. Da sind Drähte, Perlen und die Art i h rer Zuordnung. Dann die Bewegungen, die Art, ihn zu halten, und der Einfall des Lichtes. Ich kann noch andere Bewegungen erfinden. Es gibt keine Begrenzung. Er ist ganz ich selbst, wenn er spricht: Hände, Augen, ich, der Geschichtensammler. Ich blicke in ihn, sehe alles, alles
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