Morgenrötes Krieger
vielleicht war es der gefährlichste Ort, den sie je auf ihrer ganzen Reise betreten hatten. Wenn Liszendir das gleiche Gefühl hatte, so ließ sie es sich jedenfalls weder in Worten noch Gesten anmerken. Sie ging völlig auf in den vielfältigen Eindrücken, die ihr die Burg ve r mittelte. Nach einem schier endlosen Weg erreichten sie schließlich eine große Halle. Sie war geschmückt und erleuchtet mit dem vordergründigen Prunk von Festlic h keit, doch Han flüsterte Liszendir zu, dies alles sei g e nauso schäbig wie der Rest der Burg auch, und er hoffe nur, daß wenigstens das Essen ein bißchen besser sei. Sie lächelte schwach und nickte.
Man ließ sie an einem großen achteckigen Tisch Platz nehmen, auf dem ein reichverziertes Gedeck lag. Zusät z lich zu den Kerzen und Fackeln brannte im Kamin an der Stirnseite der Halle ein gewaltiges Feuer, während sich auf der gegenüberliegenden Seite eine Art Bühne befand, die anscheinend für Musiker und Unterhaltungskünstler vorgesehen war. Einige der Diener waren dort gerade mit großer Hast und Eile damit beschäftigt , Stühle und and e re Gegenstände zurechtzurücken, zu säubern und herz u richten. Zu ihrem sichtbaren Mißvergnügen wurden sie in ihren Aktivitäten durch die Ankunft einer Musikergruppe unterbrochen, deren Mitglieder Instrumente bei sich tr u gen, die Han noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Es waren ohne Ausnahme Saiteninstrumente in schönen, handgearbeiteten Formen; ihre Bögen waren jedoch komplizierte mechanische Apparate, welche von Batter i en betrieben, die Bogenbespannung bewegten. Die Mus i ker nahmen in einer anscheinend schon vorher bestim m ten Ordnung Platz, setzten ihre Bögen in Gang und b e gannen ohne Einleitung oder einen Dirigenten zu spielen. Dennoch schien das Zusammenspiel ohne viel Mühe zu klappen. Die Motoren in den Griffen der Bögen gaben ein feines, sirrendes Geräusch von sich, das – so mer k würdig es vielleicht auch anmuten mochte – ausgezeic h net zu der Musik paßte, besonders dann, wenn einige von ihnen die Tempi zeitweise erhöhten.
Etwas fesselte Hans Aufmerksamkeit ganz besonders: alle Musiker schienen Menschen zu sein, was er au f grund der Hände leicht erkennen konnte. Aber dennoch hatten sie allesamt eine derart auffällige äußere Ähnlic h keit, daß man sie für Mitglieder einer einzigen Familie hätte halten können. Er schaute genauer hin. Nein, keine Familie – irgendwie anders. Er hatte schon Veranstaltu n gen gesehen, die von einer einzigen Künstlerfamilie bestritten wurden. Familienmitglieder haben ein Äußeres, das sich graduell unterscheidet, doch im wesentlichen die Verwandtschaft deutlich werden läßt. Diese hier sahen sich wohl ziemlich ähnlich, aber gerade die ungeheure Ähnlichkeit war es, die durch eine Vielfalt des Au s drucks und des Verhaltens der einzelnen Individuen g e stört und verzerrt wurde. Der Eindruck war so stark, daß man sie unmöglich für eine Familie halten konnte.
Der zynische Haushofmeister, der sie hereingeführt hatte, betrat den Saal mit einer Geste, die zugleich Übe r heblichkeit und Unterwürfigkeit signalisierte. Dann baute er sich am Ende des Tisches auf und verkündete mit gr a vitätisch-sonorer Stimme: „Der Lord von Aving Hold und sein verehrter Gast!“
Dann verschwand er wieder. Han erhob sich, und Li s zendir tal desgleichen.
Zwei Gestalten kamen hinter dem Vorhang hervor und schritten lächelnd und ganz offensichtlich mit sich selbst zufrieden an den Tisch. Beide waren Ler, im Gegensatz zu den Dienern, und für Han und Liszendir vertraute B e kannte. Der kleine Kahlgeschorene war Hath’ingar, der größere jener ältere Ler, der sich Han in Boomtown mit dem Namen „Alphabet“ vorgestellt hatte. Er trug eine schwarze, mit Silberstreifen besetzte Robe, darunter ein einfaches, am Hals geschlossenes Hemd. Hath’ingar e r griff als erster das Wort, der andere wartete respektvoll. Er war hier trotz seines Titels und Ranges als „ Lord von Aving Hold“ dem Krieger Hath’ingar untergeordnet. Für Han und Liszendir war dies eine unangenehme Wende, und alles, was sie im Augenblick tun konnten, war, sich erstaunt anzuschauen, nachdem sie ihre Gastgeber e r kannt hatten.
8.
Sinn und Zweck der Evolution ist die Schaffung von a u tonomen Lebewesen, die in der Lage sind, ihre Struktur der Umwelt anzupassen, um sie dann durch eine bewußt gefällte Entscheidung weiterzugeben: homo metamo r phose. Eine Gattung, so wie wir sie
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