Morgenroetes Krieger
spürte die Spannung in der kleinen Hütte – das Verlangen, etwas zu tun. Noch nie zuvor waren sie dem so nahe gekommen, das schon die ganze Zeit zwischen ihnen keimte – so n a he, daß das alte Sprichwort zutraf: „Eine Schlange hätte zugestoßen.“ Er stand auf, sammelte das Geschirr ein und begann abzuwaschen. Während er sich an die Arbeit machte, verschwand Liszendir nach draußen; kurz darauf hörte er sie im Wasser des Flusses baden.
Nachdem er fertig war, kam sie in frischer Kleidung zurück und hing die alten Kleider zum Trocknen über die Leine. Dann ging auch Han, um sich im Fluß zu w a schen. Das eiskalte Wasser ließ ihn frösteln – doch nur die Haut; das Feuer, das tief in seinem Innern brannte, blieb ungelöscht. Die Nacht war ungewöhnlich kühl. Han erklomm die Spitze des nächstgelegenen Felsens und schaute auf die Ebene im Süden. Weit entfernt, fast u n sichtbar für das bloße Auge, zog sich ein Unwetter z u sammen, dessen Blitze mit dem schwachen Glanz der Hauptstadt konkurrierten. Bei den mäßigen Winden, die auf Chalcedon herrschten, würde es über Stunden seinen jetzigen Standort nicht ändern. Han beobachtete eine Weile das Wetterleuchten – zu weit, als daß der Donner ihn erreicht hätte. Dann kletterte er mit einem tiefen Stoßseufzer hinunter und kehrte zur Hütte zurück.
Als er sie betrat, nahm er den sanften Duft einer Frau wahr, die sich gerade gewaschen hatte – ein angenehm gr a siger und äußerst berauschender Geruch. Er zögerte nicht und mußte sich auch nicht vergewissern, was er füh l te.
„Liszendir …?“ Dann fragte er zärtlich: „ Liszen …?“ Ihr Liebes-Name klang seltsam, als er ihn aussprach.
Das Deckenknäuel in der Ecke entfaltete sich und en t hüllte eine weiße Gestalt im Dämmerlicht.
„Ich habe darauf gewartet, daß du das sagst“, sagte sie nur. Eine Weichheit war in ihrer Stimme, die er zuvor noch nie vernommen hatte.
„Liszen, ergreifen wir das Glück, so gut wir können.“
Er berührte die ruhige Gestalt, die glatte weiße Haut. Sie war kühl wie die Nachtluft, aber darunter brannte ein loderndes Feuer. Sie sagte etwas Zärtliches, Wörter, die sie über die Lippen hauchte, Sätze, die er nicht verstand: Multisprache. Er kniete neben ihr, seine Haut berührte ihren Oberschenkel. Er ahnte die Bedeutung der Worte. Sie klangen traurig, doch sie waren ein einziger Au s druck der Liebe, Zärtlichkeit und Leidenschaft.
Er fühlte, wie ihn das Verlangen übermannte, wie die Wirklichkeit versank. Ihr Gesicht, nah und hell, glühte im Dunkeln wie ein feuriger Ball. Wie hatte er sie je als fade und langweilig ansehen können? Sie war voller Liebreiz, von äußerster Weiblichkeit. Bevor er sich ganz in ihr verlor, hatte er noch die Kraft zu einer letzten Fr a ge, die ihm – so idiotisch es auch war – nicht aus dem Kopf gehen wollte, ähnlich einer Melodie, die einem bis ans Lebensende im Ohr saß und verfolgte.
„Küßt ihr euch?“ Noch immer wollte er wissen, ob es Tabus bei ihnen gab.
Sie antwortete mit einer plötzlichen umschlingenden Bewegung. Han war für längere Zeit unfähig, einen z u sammenhängenden Satz zu sagen. Ein dunkler Schatten breitete sich über ihn, drängte alle Wirklichkeit zurück – bis auf eine: Dunkelheit und brennendes Feuer!
Mit dieser Nacht begann für sie eine völlig neue Dimens i on ihrer Beziehung. Unter den neuen Bedingungen verl o ren sie jeglichen Halt, jegliche Ordnung und alle R e geln, nach denen sie sich bisher zueinander verhalten hatten. Es gab nur noch Gefühle und körperliches Verlangen; so g a ben sie den starken Bedürfnissen nach, die sie verspürten, und verbanden sie mit einer wachsenden und sich verti e fenden Zuneigung. Die Zeit verstrich. Han sah, wie die Sonne von Chalcedon, Avila 1381, auf- und wieder unte r ging. Es war ohne Bedeutung. Sie aßen, sie schliefen, sie liebten sich. Liszendir war unersättlich und kannte keine Erschöpfung. Bei Han war das anders; er tat es, so lange er konnte, aber schließlich war er am Ende – nichts ging mehr. Vor lauter Erschöpfung brach er z u sammen.
Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte; er wußte nur, daß es Morgen war, als er erwachte. Oder täuschte er sich? War es vielleicht Abend? Noch benommen, ve r suchte er sich zu erinnern, von welcher Seite normale r weise das Morgenlicht hereinschien. Er schaffte es nicht. Nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, wu r den die Schatten länger. Er fühlte etwas
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