Morgenroetes Krieger
anders! Vielleicht nicht besser oder großartiger – aber doch anders. Sechstausend waren wir, mit einer solch niedrigen Geburtenrate, daß es Gen e rationen gedauert hätte, eine Zahl zu erreichen, die die Stabilität unseres genetischen Codes gewährleistet hätte. Sie benutzten uns, bis wir Jahre später entflohen.
Es ist wahr, daß wir Fähigkeiten besitzen, die euch Menschen abgehen. Ihr habt uns ein eidetisches G e dächtnis gegeben, aber zugleich mußtet ihr uns die F ä higkeit geben, zu vergessen. Aber es ist kein Vergessen in eurem Sinne. Bei euch handelt es sich um eine Art Verdrängung, nicht um einen Totalverlust wie bei uns. Wenn wir etwas schriftlich niederlegen, so müssen wir höllisch aufpassen: denn ist es einmal heraus aus dem Kopf, kann es für immer fort sein. Dafür gibt es keine Gedankenquälerei; man kann keinem ein Geheimnis en t locken, der alles total vergißt – selbst noch die Tatsache, daß er existiert. Wir können auch besser sehen, da wir ein größeres sensorisches Spektrum für natürliches Licht h a ben – zwei zusätzliche Farben auf jeder Seite der Skala –, und acht statt drei Wellenbereiche, auf die unsere Sehze l len eingerichtet sind.
Doch alles kann auch zur Belastung werden, Han. Wir kennen kein spezielles Nachtsehen, sondern sehen auch dann noch farbig, allerdings mit geringerer Intensität. Und was ist mit der niedrigen Geburtenrate und der ku r zen Fruchtbarkeitsperiode, die bei uns einprogrammiert ist wie bei den Tieren auf dem Feld? Man sagt, es sei ein Gesetz der Evolution: je höher die Art, um so mehr B e wußtsein, um so weniger Instinkt; je niedriger die Gebu r tenrate … Und auch sonst: unsere Größe, unsere Hände. Oder auch unsere jugendliche Erscheinung, um die ihr uns so beneidet. Ja, ich weiß Bescheid. Der Traum von der ewigen Jugend. Und dann das Sexualverhalten im Reifungsalter. Man gab es uns nicht zum Vergnügen, sondern aus Berechnung. So beschäftigt, hatten wir n a türlich wenig Zeit und Lust, um uns um andere Dinge zu kümmern. So wurde es zu einer oberflächlichen Körpe r liebe, die wir nie mit anderen Dingen verbinden können. Es gibt nur das eine: oberflächlich, alltäglich und wenig leidenschaftlich. Die echte Liebe ist selten.
Du willst sicher wissen, wie es damit steht? Schön, ich will es dir erzählen. Zwanzig Jahre lang viel Spaß, Ve r gnügen und Spielerei – aber fruchtlos, ja, fruchtlos. Wir fürchten uns vor der Fruchtbarkeit, weil Sexualität dann einen anderen Sinn bekommt, mehr wird als nur reines Vergnügen. Wir haben so gut wie keine freie Wahl. Da r um auch die intensive Beschäftigung mit den Sozia l strukturen – es wäre eine zu große Kraftanstrengung, wenn wir anders leben wollten. Warum, glaubst du, gibt es sonst so etwas Kompliziertes wie unsere Webe – wir haben unsere guten Gründe. Man will noch einen Rest an Kontrolle behalten, wer geboren werden soll und was später aus ihm wird, nachdem der reine Instinkt sein Werk vollbracht hat. Deshalb auch ist sie nichts fürs ga n ze Leben. Nur aus reiner Neugier würden wir so etwas nicht erfinden.
Dort, wo du gelebt hast, war es nicht möglich, dies a l les zu beobachten. Die Innenverwandten der Webe – Bazh’ingil und Pethmirian – waren schon in der Fruchtba r keitsperiode. Die anderen warteten gerade auf eine neue Phase; ein oder zwei Jahre braucht Tanzernan , um erneut fruchtbar zu werden. Sie und Dardenglir lieben und hassen sich, wie alle anderen Leute auch, da besteht kein Unte r schied – keiner! Die Begierde und das Verlangen übe r kommt jeden; die beiden Außenverwandten sind ei n ander relativ fremd, und was sie tun oder lassen we r den, liegt nicht im Rahmen ihrer Kontrollmöglichkeit. Hast du dich nicht darüber gewundert, daß unsere Ält e sten allein leben, wenn sie es können? Sie handeln so aus freien Stücken, nicht aus Notwendigkeit, und sie sind dankbar dafür!“
„Aber, Liszendir, was ist mit den Liebhabern vor der Verwebung? Warum verwebt man sich nicht mit ihnen? Und was passiert nach der Verwebung? Was dann? Ob man nun froh ist, allein zu sein oder nicht: Wandern sie nun in die Wälder und kämpfen gegen ihre sinnlichen Begierden an wie asketische Einsiedler?“
Sie lachte ein kurzes, unlustiges Lachen – ohne die Spur eines Humors. „Wenn es man so wäre. Aber es ist nicht so. Jeder Schritt vorwärts – trotz Verzögerungen und Irrwegen – bedeutet das schrittweise Näherrücken an das Ziel, an die Bestimmung. Für uns
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