Morgenrot
das weggetretene Opfer eines Schusswechsels saß.
Millimeter um Millimeter hob Lea den Fuß, bis sie endlich einen Widerstand fühlte und behutsam aufs Gas treten konnte. Dieses Mal erklang ein sattes Schurren, und der Wagen glitt zurück.
Das Auto rollte in Richtung Ausgang, wobei es Lea fast unmöglich war, die Spur zu halten. Denn sie musste den Wagen von der Seite aus lenken, auf der sie normalerweise als Beifahrerin saß. Vor der Rampe zum Ausgang starb der Motor noch dreimal ab, und jedes Mal fluchte Adam leise vor sich hin, obwohl er ansonsten kaum fähig war, seinen Kopf so weit zu stabilisieren, dass er nicht ständig auf seine Brust sank. Auch sie stöhnte innerlich auf und machte drei Kreuze, als sie die Tiefgarage und mit ihr das Institut hinter sich gelassen hatten.
»Wie geht es dir?«, fragte Lea, als eine rote Ampel sie zum Anhalten zwang. Es war früher Morgen, die Kreuzung war um diese Tageszeit noch menschenleer und wirkte gespenstisch im fahlen Zwielicht.
Statt eine Antwort zu geben, brummte Adam nur beschwichtigend und leckte sich mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen. Unwillkürlich musste sie daran denken, dass vor nicht einmal einer Stunde ihr Blut diese Lippen passiert hatte. Sie erschauderte, aber sie verspürte ebenso einen seltsamen Stolz.
Als die Ampel auf Grün schaltete, zwang Lea den Wagen heulend und hoppelnd voran. »In den oberen Gängen macht er mir weniger Schwierigkeiten«, verteidigte sie sich, den Blick stur auf die Straße gerichtet.Trotzdem war sie sich bewusst, dass Adam sein Gesicht gequält verzog. »Alte Dreckskarre«, murmelte sie frustriert. »Null Fahrkomfort, reiner Angeberkram ...«
Aus den Augenwinkeln sah sie Adams Hand, die sich zitternd am CD-Player zu schaffen machte. Im nächsten Moment erklang Musik aus den Boxen, deren Lautstärke Adam rasch hochdrehte. Lea war sich nicht sicher, ob er damit ihr Geschimpfe oder den jammernden Motor übertönen wollte. Doch dann schlich sich die Musik in ihre Gedankengänge und löste nach und nach die Schimpftirade auf, die ihr auf der Zunge brannte. Ohne es recht zu bemerken, ließ sie sich von Rhythmus und Melodie mitreißen. Sie bekam das Musikstück nicht recht zu fassen. Zu treibend für einen Popsong, zu kunstvoll für ein Rockstück. Der Gesang berührte sie, erzählte ihr eine Geschichte. Sie hörte auf, darüber nachzudenken, lauschte nur.
Als Lea endlich einmal tief ausatmete, erschrak sie, da sich dabei ein brennender Schmerz in ihren Brustkorb grub. Sie war sich gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie jeden einzelnen Muskel verkrampft hatte. Während sie sich nun entspannte, protestierte ihr Körper, bis sich der Schmerz in ein warmes Pochen verwandelte. Sie sank ein Stück tiefer in den komfortablen Sitz. Lautlos sang sie den Songtext mit, und als ihre Lippen die Worte »Schatten werfen keine Schatten« formten, schlich sich sogar ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Sie waren entkommen.
Wider aller Erwartung. Gemeinsam.
Lea parkte den Wagen halb auf dem Schotterweg, halb auf dem verwilderten Rasenstreifen. Sie zog den Schlüssel ab, lehnte sich noch einmal in den weichen Sitz zurück und schloss die Augen. Neben sich hörte sie Adams gleichmäßige Atemzüge. Er hatte die Lehne des Sitzes bis zum Anschlag zurückgestellt und schlief nun zusammengekauert unter einer Decke. Vor ein paar Stunden noch hatte er sich hartnäckig geweigert, sich zum Ausruhen auf die Rückbank zu legen. Wahrscheinlich hatte er - trotz seines desolaten Zustands - ernsthaft gehofft, im Verlauf der Reise Lea das Lenkrad doch noch aus den Händen reißen zu können. Dabei hatten sich ihre Fahrkünste rasant gesteigert. Ohne ihr elegantes Anfahren zu loben, war er ins Reich der Träume entglitten.
Sie hatten noch einen Zwischenstopp beim Hotel eingelegt, um die Katze und Leas Habseligkeiten zu holen. Von Megan war keine Spur zu sehen gewesen, aber Adam hatte sich nicht weiter dazu geäußert, und Lea verspürte wenig Neigung, ihrem Verschwinden auf den Grund zu gehen.Vielleicht hatte Megan sich vor Scham zurückgezogen, weil sie Lea entgegen ihrer Anweisungen aus den Augen verloren hatte. Oder Adam hatte sie aus seinem Dienst entlassen.
Adam hatte mit vor Anstrengung bebendem Rücken den Kopf unter den Wasserhahn gehalten, bis ein Großteil des Blutes abgewaschen war. Den Rest hatte er mit dem verdorbenen Hemd abgewischt. Dann war er in eins von Leas grauen Schlafshirts geschlüpft. In ihre Jeans musste er sich mit Gewalt
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