Morgenrot
»Und, lebt die Karre noch?«
Adam senkte den Kopf, um seine Schuhspitzen zu inspizieren. Trotzdem entging Lea nicht, wie sich auf seinem Gesicht ein Schmunzeln ausbreitete. Aber bevor sie erleichtert die Arme um ihn legen konnte, erwiderte er in arrogantem Tonfall: »Eine solche großartige Ingenieurskunst kann nicht einmal von deinem Fahrstil ruiniert werden.«
Statt einer Umarmung verpasste Lea ihm einen Schlag gegen die Schulter und streifte dabei eine der noch nicht ganz verheilten Schusswunden. Doch Adam zuckte nur leicht zusammen.
»Da gibst du nicht einmal einen Mucks von dir, wenn du angeschossen wirst. Aber wenn es um dein albernes Auto geht, stöhnst du herum, als stündest du Höllenqualen aus«, versuchte sie ihm erneut eine Reaktion zu entlocken.
Und tatsächlich stieß Adam ein leises Lachen aus. Allerdings hielt er immer noch den Blick gesenkt, als wolle er nicht, dass sie seine Mimik beobachtete. Gerade jetzt, da es ihm nicht gelingen wollte, die gleichgültige Maske aufzusetzen. Da Lea sich neugierig vorbeugte, senkte er den Kopf weiter, und das etwas zu lang gewordene Haar fiel ihm ins Gesicht. »Albernes Auto ...«, äffte er sie scheinbar beleidigt nach. »Eigentlich solltest du über mein Verhalten froh sein. Es ist noch genug Mensch in mir, um mit einem misshandelten Oldtimer mitzuleiden.«
»Du meinst wohl Mann«, sagte Lea spitz und genoss es, als Adam erneut ein leiser Lacher rausrutschte. Dann drängte sich ihr ein Gedanke auf, der ihr augenblicklich den Mund austrocknete und die Handinnenflächen in Feuchtbiotope verwandelte. »Apropos Mann: Hoffentlich kommt mein Vater nicht auf die Idee, seine Frühjahrsinspektion der Hütte ausgerechnet jetzt vorzunehmen.«
»Ich glaube nicht, dass du dir darüber Sorgen machen musst«, erwiderte er immer noch belustigt. »Dein Vater arbeitet zurzeit wie ein Besessener an einem bahnbrechenden Aufsatz über Regressive Konstruktionen, die er auf dem jährlichen Philologen-Treffen vorstellen will. Er ernährt sich vor lauter Stress fast ausschließlich von Tiefkühl-Sushi - richtig widerlich.«
Lea runzelte die Stirn. »Du bist wirklich sehr gründlich, nicht wahr?«
Adam nickte nur leicht, wobei sein Gesicht wieder aus dem Haarwust auftauchte. Er kaute auf seiner Unterlippe herum, als ginge ihm etwas Wichtiges durch den Kopf, das er nur schwer in Worte fassen konnte. Dann zuckte ein Muskel unter seinem Wangenknochen, und er warf Lea einen flüchtigen Blick zu.
»Vielen Dank für dein Blut«, sagte er heiser. Endlich drehte er ihr sein Gesicht zu. In seinen Augen flackerte Unsicherheit, aber auch etwas, das Lea bei einem anderen Mann sogleich als Zärtlichkeit gedeutet hätte.
Sie stutzte.
Die kleine Spende hatte sie beinahe wieder vergessen, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie auch nie wieder daran gedacht. »Du hast ja sozusagen nur ganz kurz an mir genippt.« Sie stockte und fühlte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss. »Kann mir gar nicht vorstellen, dass es irgendwas gebracht hat...«
»Es ist nie zu wenig und nie genug«, erwiderte Adam mit einem schiefen Lächeln, das Lea den Atem raubte. Dann legte er ihr den Arm um die Hüfte, und gemeinsam gingen sie zurück zum Wagen, in dem die Katze ihr Beruhigungsmittel längst ausgeschlafen hatte und nun elend vor sich hin maunzte.
21. Tage am See
An ihrem ersten Abend in der alten Blockhütte konnte Lea sich nur mühsam bis ins Schlafzimmer schleppen und die verstaubte Tagesdecke vom Bett ziehen, dann schlief sie geradewegs zwischen dem unbezogenen Bettzeug ein. Als sie endlich wieder zu sich kam, fühlte sich ihre Seele so taub an, als hätte sie den Schlaf in einer schwarzen, traumlosen Sphäre verbracht. Sämtliche Gefühlsregungen waren wie mit Kaugummi verklebt, und anstelle der Vielzahl von Klängen, die ihr normalerweise durch den Kopf schössen, hörte sie lediglich ein Brummen. Offensichtlich hatte ihre Seele nach all den Ereignissen der letzten Tage einen Kater. Das aufdringliche Piepsen in ihren Ohren und die schmerzenden Glieder machten das Ganze nicht besser.
Als sie sich streckte, knirschte es gefährlich im Nacken, und das Ziehen der Halssehne verriet ihr, dass sie offensichtlich viel zu lange in ein und derselben Position gelegen hatte.Vorsichtig drehte sie sich auf den Rücken. Sie verspürte Durst, großen Durst. Sie blinzelte und im trüben Licht, das durch die Stoffvorhänge drang, erkannte sie eine Wasserkaraffe und ein Glas, die jemand Fürsorgliches
Weitere Kostenlose Bücher