Morgenrot
und Nacht, der die Menschen antrieb, ihre Schritte zu beschleunigen und nach Hause zu eilen. Auch das marode Netz der Straßenlaternen konnte dem anwachsenden Hunger der Dunkelheit nichts entgegenhalten: Jeden Tag brach mehr von der Spanne trüben Tageslichts weg, aber niemand in dieser Stadt schien sonderlich daran interessiert zu sein, die Laternen dem Wandel anzupassen. Lieber stolperte man durch finstere Straßenschluchten und brach sich das Genick in einer Schneeverwehung.
Als Lea an diesem Nachmittag zum ersten Mal von dem Buch aufschaute, das sie mit Anmerkungen versah, blickte sie auf ein schwarzes Fenster, das den Schein ihrer Leselampe reflektierte. Verwirrt blinzelte sie, da dort eben noch die Umrisse des gegenüberliegenden Hochhauses zu sehen gewesen waren. Ein Gähnen unterdrückend, rieb Lea sich den Nacken. Wahrscheinlich war sie die einzige Person in dieser Stadt, die es immer wieder aufs Neue durcheinanderbrachte, mitten im Zentrum, umgeben von breiten Straßen und mehr als zehn Stockwerke hohen Häusern zu sitzen und draußen lediglich einige verwischte Lichtflecke erkennen zu können: Lampen und Kerzen hinter orange-braun gemusterten Vorhängen und gelegentliches Aufflackern von Autoscheinwerfern in der Tiefe der Häuserschluchten.
An diesem Abend verwehrte zudem stetig fallender Schnee die Sicht auf Sterne und Halbmond. Einen Augenblick lang betrachtete Lea das Spiel der bauschigen Flocken, dann öffnete sie das einzige Fenster in ihrem Zimmer einen Spalt und tastete vorsichtig nach dem Haken in der Außenwand. Sofort begannen ihre Finger vor Kälte zu kribbeln, und sie war froh, dass sich der steif gefrorene Knoten des Seils, an dessen Ende ein Stoffbeutel hing, rasch lösen ließ. Sie angelte ein in Wachspapier gewickeltes Stück Käse und eine Plastikflasche mit gefrorener Milch heraus.
So kalt es draußen war, in ihrem Zimmer kochte die Luft. Der Hausmeister, Herrscher über die Zentralheizung und selbst ansässig in einem der unzähligen Wohnlöcher, liebte es offensichtlich schweißtreibend heiß. So kam es, dass Lea in Trägershirt und Pyjamahose auf dem stockig riechenden Fußboden saß und las, während gelegentlich ein Windzug vom undichten Fenster ihre nackte Schulter berührte.
Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass ihre Wangen aufgrund der trockenen Heizungsluft immerzu brannten und sie nachts im festen Glauben aufwachte, in einer Sauna eingeschlafen zu sein.
Als sie ihrer Studienfreundin Maria davon am Telefon berichtet hatte, hatte diese nur trocken erwidert: »Du hast es ja so gewollt. Warum auch Zeit in Paris oder Stockholm vertrödeln, wenn man wildes Neuland erkunden kann. Das waren doch deine Worte, nicht wahr? Als ich dich vor dieser Nummer gewarnt habe, meintest du bloß, dass du Herausforderungen magst. Also nutze sie.«
Mit Mühe hatte Lea eine bissige Bemerkung zurückgehalten, aber dass ihre Freundin keine Spur von Mitleid aufbrachte, hatte ihr unleugbar zu schaffen gemacht. »Diese Stadt und die Menschen bringen mich irgendwie aus dem Konzept«, hatte sie in der Hoffnung angesetzt, Maria doch noch ein paar tröstende Worte entlocken zu können.
Maria hingegen hatte sich in ihrer spröden Art unerbittlich gezeigt: »Du hast dich noch nie sonderlich für deine Umwelt interessiert.Von allen Leuten aus dem Literaturfachbereich, die ich kenne, bist du diejenige, die am meisten in der Bücherwelt lebt. Wenn man von dir wahrgenommen werden will, muss man eine Kurzgeschichte über die eigene Person schreiben.«
»Das mag ja sein, aber ...«, hatte Lea stockend entgegnet. »Auch die Leute hier sind so anders. Ich verstehe die Regeln einfach nicht, nach denen hier alles abläuft, von den Sprachproblemen einmal ganz abgesehen. Dass hier alles so seltsam ist, stand in keinem einzigen Reiseführer drin.«
»Du bist es einfach nur nicht gewohnt, dich auf andere einzulassen. Jetzt bist du endlich einmal gezwungen, aus deinem Kopf rauszuschlüpfen und zu sehen, was das Leben sonst noch so zu bieten hat.« An dieser Stelle hatte Lea ein empörtes Schnauben ausgestoßen, doch Maria hatte sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lassen. »Du solltest die Zeit am Ende der Welt als Chance für dich sehen, deine Mitmenschen einmal richtig wahrzunehmen und nicht bloß neben ihnen herzuleben. Das hast du nämlich bislang immer getan, Lea.«
Nach diesem Satz hatte Lea nur noch eine knappe Verabschiedung genuschelt und seitdem nicht mehr mit Maria gesprochen. Die Worte ihrer
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