Morgenrot
wollte gerade noch einen fragenden Blick über die Schulter werfen, da war die Zimmertür bereits wieder geschlossen und sie fand sich allein in einem Salon wieder.
Mit einem Schlag überkam sie das Gefühl, gefangen zu sein, und instinktiv wollte sie nach dem Türknauf greifen. Das ist doch lächerlich, sagte sie sich, aber es gelang ihr nicht, das Unbehagen abzuschütteln. Das Prickeln in ihrem Nacken ignorierend, wandte sie sich von der Tür ab. Mit jedem Schritt, den sie in Richtung Raummitte machte, versank sie mehr in der Schönheit des Salons und der unerklärliche Anflug von Angst verschwand.
Kobaltblaue Vorhänge mit goldenen Längsbahnen schlössen die Nacht aus, und die dunkelroten Seidentapeten schimmerten im Licht eines Kaminfeuers. Genüsslich rieb Lea mit ihren Zehen über den Perserteppich, der einen Großteil des lackierten Holzbodens bedeckte.
Ein Bücherregal aus Kirschholz dominierte den Raum, dessen wertvolle Exponate von Lampen angeleuchtet wurden. Überall standen antike Möbel: zierliche Sofas, die gerade mal Platz für zwei Personen boten, verschnörkelte Stühle und Tische, die mit Silberrahmen, Porzellanfiguren und anderen verspielten Kleinigkeiten beladen waren. In einem mit Blattgold umrahmten Spiegel sah Lea kurz ihr schmales Gesicht aufblitzen, dann schaute sie schnell weg, da ihr der leicht verlorene Ausdruck nicht gefiel.
In einer Ecke entdeckte Lea schließlich das Klavier, dessen Klang sie bis auf die Straße gehört hatte und dessen Deckel immer noch einladend aufgeklappt war. Gerade als sie mit dem Gedanken spielte, sich die Notenblätter anzuschauen, gingen die Lichter aus. Stromausfall Nummer vier an diesem Tag, dachte Lea und fügte ihn in ihre gedankliche Strichliste ein.Wie konnte ein Land nur funktionieren, wenn ständig alles ausgeknipst wurde?
Das Feuer im Kamin verbreitete wohlige Wärme und schwaches Licht. In den letzten Wochen hatte Lea schon in deutlich unangenehmeren Situationen im Dunkeln gesessen, so dass sie sich nach einem kurzen Schrecken gleich wieder entspannte. Das hier war doch sehr viel angenehmer als der zugige Tunnel - Herausforderungen musste man sich eben stellen.
Lea überlegte, zu einem der Sofas am Kamin zu gehen, als plötzlich in der gegenüberliegenden Ecke des Raums eine Kerze aufflackerte. Sofort kehrte das beklemmende Gefühl zurück, in eine Falle getappt zu sein. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Lea einen Mann an, der ein Streichholz ausblies und dann mit einem Kerzenleuchter in der Hand auf sie zutrat. Als das Licht auf ihn fiel, wich das Unbehagen augenblicklich einer ganz anderen Art der Gebanntheit: Dieser Mann war atemberaubend schön. Eine hohe, schlanke Gestalt mit einem fast schon unwirklich klassisch geschnittenen Gesicht und weich in Stirn und Nacken fallendem Haar. Er blieb ein Stück vor ihr stehen, und Lea erkannte, dass sein Haar die Farbe von dunklem Honig hatte.
Aber da war noch etwas anderes, das die Schönheit des Mannes vergessen machte. Etwas, das Lea berührte und sich ihrem gierig greifenden Verstand entzog, wie ein vom Wind zugetragener Klang. Ein Gefühl, als ob jemand die richtigen Zeilen ausspricht, und obwohl man sie nicht versteht, man doch weiß, dass sie wahr sind. Dieser Mann war wie ein geheimes Wort, das nur für Lea bestimmt war.
Vollkommen fasziniert starrte Lea ihn an und hätte fast dem Bedürfnis nachgegeben, ihn zu berühren - da bemerkte sie sein spöttisches Lächeln. Damit war der Bann gebrochen, und sie richtete verlegen den Blick zu Boden. Da hatte sie minutenlang das Interieur des Salons begutachtet, ohne die Anwesenheit eines anderen Menschen zu bemerken, und kaum hatte dieser auf sich aufmerksam gemacht, fraß sie ihn mit Blicken auf.
»Hoffentlich gefällt Ihnen auch, was Sie sehen?«, fragte der Mann glücklicherweise in einer Sprache, die Lea geläufig war. Dadurch entging ihrauch die Zweideutigkeit seiner Frage nicht. Zu allem Übel fügte sich seine Stimme in das Gesamtbild ein: wohlklingend und mit einer unterschwellig rauchigen Note. Lea war immer noch so verzaubert, dass sie sich nur ein zustimmendes Seufzen abringen konnte.
»Etienne hat sich bei der Instandsetzung des Hauses die größte Mühe gegeben. Ich kann Ihren hingerissenen Gesichtsausdruck also gut nachvollziehen«, erklärte er und stellte den Kerzenleuchter auf dem Klavier ab.Während er sich auf dem Schemel davor niederließ, deutete er Lea an, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Mit steifen Bewegungen kam sie der
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