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Morgenrot

Morgenrot

Titel: Morgenrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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verloren blieb Lea stehen und versuchte, sich erst einmal zu sammeln.
    Nach wie vor raubten die extremen Gegensätze in dieser Stadt ihr den Atem: Fast nahtlos ging das weitläufige Hochhausgetto in den schmalen Streifen altehrwürdiger Bauten über, die vom Bombenhagel der Kriege verschont geblieben waren. Doch schon nach einigen Straßenzügen wurden diese architektonischen Schmuckstücke von einem Gewirr aus Hochstraßen und Industriebaracken eingezäunt. Ein Großteil der Stadt bestand aus verwittertem Beton und vom Frost aufgeplatzten Asphalt. Obwohl die meisten Bauwerke erst einige Jahrzehnte alt waren, sahen sie bereits abbruchreif aus. Während die alten Viertel eine Renaissance erlebten, standen viele der Wohnungen in den Hochhäusern leer, und in den langen Winternächten stachen ihre blinden Fenster besonders unheimlich ins Auge. Die Randgebiete der Stadt wurden lediglich von ein paar verlassenen Hütten und ausgeschlachteten Autowracks am Straßenrand gesäumt. Dahinter begann der Wald. Kein langjährig kultivierter Wald, wie Lea ihn von zu Hause kannte und schätzte und dessen gut ausgebautes Wegenetz zu Spaziergängen am Sonntagnachmittag oder vergnüglichen Fahrradtouren einlud. Nein, dieser Wald hier hatte nicht das Geringste mit einem gepflegten Naherholungsgebiet zu tun.
    Auf ihrer Anreise mit dem Zug war Lea durch ihn hindurchgefahren und bei seinem Anblick hatte sie zum ersten Mal diese Verunsicherung verspürt, die sie seitdem nicht mehr losgelassen hatte: eine Armee mächtiger Nadelbäume, die mühelos den Schneemassen standhielten. Im Frühjahr war der Boden ganz gewiss nicht mit kleinen Blumen bedeckt, einfach, weil kein einziger Sonnenstrahl seinen Weg durch das undurchdringliche Nadelgrün fand. Falls man hier so etwas wie Sonnenschein überhaupt kennt, hatte Lea gedacht, während sich ihr angesichts dieses Waldes, der die Stadt von allen Seiten bedrängte, die Kehle zugeschnürt hatte.
    Der Anblick von Professor Carrieres schönem alten Haus machte einiges von den finsteren Eindrücken der letzten Wochen wieder wett. Die aufwendige Stuckfassade war mit Liebe zum Detail aufgearbeitet worden, die Farben strahlten frisch, und selbst die sichtlich altertümliche Eingangstür aus Holz zeigte keinen einzigen Kratzer im dunkelroten Lack. Das Haus stand frei und war einladend dicht an der Straße gebaut worden: Nur ein zierlicher Schmiedezaun und ein paar vom Schnee bedeckte Rhododendren trennten beide voneinander. Leider konnte Lea keinen Blick in die Räume erhaschen, weil sämtliche Vorhänge zugezogen waren. Aber durch den Stoff drang ein feiner Lichtschein, der sie geradezu einzuladen schien. Auch die nur gedämpft zu hörenden Klänge eines Klavierstücks, die aus dem oberen Stockwerk zu kommen schienen, übten eine magische Anziehungskraft auf sie aus.
    Trotzdem trat Lea von einem Fuß auf den anderen, bemüht, das Steifwerden ihrer Zehen zu ignorieren. Immer noch hoffte sie, dass einer ihrer Kommilitonen ebenfalls unhöflich früh auftauchen würde. Gemeinsam wäre die Taktlosigkeit leichter zu ertragen. Ein weiterer beißender Windstoß, der ihr das Haar ins Gesicht trieb, überzeugte sie jedoch davon, dass sich draußen in der Kälte wohl kaum mehr Zeit schinden ließ.
    Mit einem Seufzen zog Lea an dem funkelnden Messingstrang neben der Tür, woraufhin ein gedämpftes Glockenläuten im Inneren des Hauses erklang. Nach einer Weile, gerade als Lea ein zweites Mal läuten wollte, öffnete sich die Tür einen Spalt. Eine ältere, in Schwarz gekleidete Frau begrüßte sie in der Landessprache, weshalb Lea davon ausging, eine Hausangestellte vor sich zu haben.
    Den kritischen Blick der Frau auf sich spürend, stellte Lea sich vor und gab ein zerknirschtes »Ich bin etwas früh dran« von sich. Einen Augenblick lang befürchtete sie, nicht eingelassen zu werden. Doch die Frau mit dem ausgesprochen missmutigen Gesichtsausdruck trat nach einem Zögern beiseite. Nachdem sie ihr Jacke und Schal abgenommen und Lea ihre durchweichten Stiefel abgestreift hatte, stiegen sie gemeinsam eine mit Orientteppichen ausgelegte Treppe hinauf.
    Nur allzu gern hätte Lea den kurzen Gang ausgedehnt, um die reichlich geschmückten Wände und die ausufernden Bücherregale im oberen Stockwerk ausgiebig in Augenschein zu nehmen. Bevor sie sich jedoch versah, hatte die ältere Frau sie in ein Zimmer geschoben und ein paar unverständliche Sätze genuschelt, die Lea beim besten Willen nicht entschlüsseln konnte. Lea

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