Morgenrot
Freundin hatten sie mehr verletzt, als sie sich eingestehen mochte. Eigentlich war Lea eine junge Frau, die sich gut allein zurechtfand schließlich hatte sie es früh genug lernen müssen. Aber in solch einer beklemmenden Situation einfach abgekanzelt zu werden, das wollte sie dann doch nicht hinnehmen.
Trotz allem mochte Lea das Zimmer, das ihr für die Zeit ihres Auslandsstipendiums zur Verfügung gestellt worden war. Es hatte zwar die Größe einer Besenkammer und jenen seltsamen Charme, der von Verfall ausgeht, dennoch war es ihr Nest in dieser befremdlichen Stadt, die sich ihr nicht erschließen wollte.
Während sie auf einem Käsebrot kaute und die trockenen Krümel mit Tee hinunterspülte, weil die Milch noch nicht aufgetaut war, lauschte sie auf die Geräusche im Haus, die nicht vom Glucksen und Pochen des Heizkörpers übertönt wurden. Das sich ständig zankende Paar über ihr schien noch nicht zu Hause zu sein. Die Wohnung links stand leer, wie so viele andere in diesen heruntergekommenen Betonquartieren. Von rechts drangen Kochgeräusche durch die dünne Wand: Jemand klapperte und schepperte mit Blechgeschirr, während das Radio volkstümliche Lieder trällerte. Draußen lärmte die typische Melange aus Straßenverkehr, Geschwätz und noch mehr Heimatliedern. Es war ein überraschend ruhiger Abend.
Noch einmal überflog Lea ihre Notizen und bemühte sich, die seit Stunden an ihr nagende Nervosität zu unterdrücken. An diesem Abend war sie das erste Mal zu einer Diskussionsrunde bei ihrem Literaturprofessor Etienne Carriere eingeladen - Thema sollte die Blütephase der Romantik sein, Leas Studienschwerpunkt. In den Vorlesungen hatte sie bislang noch nicht so glänzen können, wie sie es sich gewünscht hatte. Doch Carrieres hervorragender Ruf und die in ihren Ohren kaum verständlich klingenden Kommilitonen hatten ihr wachsendes Unbehagen weiter geschürt, so dass Lea eine Zurückhaltung an den Tag legte, die ihr äußerst fremd war. Glücklicherweise war es ihr trotzdem gelungen, mit einigen Anmerkungen die Aufmerksamkeit ihres Professors auf sich zu lenken und deshalb mit einer Einladung bedacht zu werden.
Das Beste wäre, sagte Lea sich nun, die noch verbleibende Zeit irgendwo anders totzuschlagen. Hier, in ihrem zehn Quadratmeter großen Brutkasten, hielt sie es vor Anspannung jedenfalls nicht länger aus. Ob ihre Wangen von Hitze verbrannt oder vom eisigen Wind erfroren wurden, machte nun keinen Unterschied mehr.
Den Parka und den meterlangen Strickschal unter denArm geklemmt, eilte sie einige Minuten später durch den dämmrigen Flur, der, aller Vernunft zum Trotz, mit Teppich ausgelegt worden war. Jahrzehnte voller Schneematsch hatten eine schwarze Schneise in der Mitte des Flurs gebildet, die bei jedem Schritt ein saugendes Geräusch machte. Es stank nach Schimmel und Moos. Lea hätte es nicht sonderlich überrascht, wenn sich in den Ecken Farne neigen würden. Dem Fahrstuhl am Ende des Gangs warf sie einen skeptischen Blick zu und stürmte dann ins fensterlose Treppenhaus. Lieber rannte sie die elf Stockwerke hinab, als sich diesem maroden Ungetüm anzuvertrauen.
Auf der Straße konnte sie den Schal nicht fix genug um den Hals schlingen, so schnell hatte der Ostwind jeden Millimeter ungeschützte Haut erobert und sie fast zum Umkehren bewegt. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, sich für ein Semester in dieser Eishölle zu bewerben?, fragte sich Lea wie schon unzählige Male zuvor.
Unsicher wich sie vom Verkehr grau gesprenkelten Schneehaufen aus, froh darüber, dass einige Laternen mittlerweile brannten und Teile des Gehsteigs schummerig beschienen. Auch der Schneefall wurde leichter, als Lea fast wieder einmal an der unauffälligen U-Bahn-Station vorbeigelaufen wäre. Nach wie vor war sie sich nicht sicher, ob das Stationsschild geklaut oder gar nicht erst angebracht worden war.
Die Treppe zum Bahnsteig war so vereist, dass Lea gezwungen war, sich mit steifen Fingern am Geländer festzukrallen, während ihre in gefütterten Stiefeln steckenden Füße versuchten, auf dem spiegelglatten Grund Halt zu finden. An ihr hasteten Menschen vorbei, bekleidet mit schweren Mänteln und Fellmützen, und warfen ihr belustigte Blicke zu. Aber daran hatte sich Lea in den letzten Wochen gewöhnt. Im Gegensatz zu ihr tänzelten selbst dick eingemummelte Großmütter elegant über den eisigen Grund.
Einige Minuten später saß Lea im unbeheizten Waggon der U-Bahn und beobachtete drei junge Frauen,
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