Morgenrot
klaffte weit auseinander, so dass Lea mehr als den bloßen Brustansatz zu sehen bekam.
Unvermittelt war die Frau im Türrahmen stehen geblieben, schenkte den Anwesenden jedoch keinerlei Aufmerksamkeit. Sie machte viel mehr den Eindruck, als lausche sie einer Stimme, die nur sie hören konnte.Während sie innehielt, betasteten die Finger unablässig die einzelnen Perlen der Kette.
Pi hatte sich mittlerweile wieder in die alte Sitzposition zurückfallen lassen und inspizierte die seltsam glatten Innenflächen seiner Hände. »Agatha-Schatz, mach doch bitte die Tür zu und setzt dich zu uns«, sagte Pi, ohne fordernd zu klingen. Offensichtlich rechnete er nicht damit, dass Agatha reagieren würde. Tatsächlich blieb diese ungerührt in der Tür stehen und horchte weiterhin in sich hinein.
»Man weiß nie so recht, auf welcher Zeitebene sich Agathas Geist gerade befindet«, erklärte Pi gelangweilt. »Nach einigen Jahrhunderten läuft unsereins Gefahr, dass die Abfolge von Ereignissen ineinander verschmilzt. Vor allem, wenn man keinen Anker findet, an dem man festmachen kann. Dann geht man im Sog der Zeit verloren. Ewiges Leben raubt vielem die Bedeutung, die Dinge rauschen an einem vorbei und nichts schafft es mehr, hervorzustechen. Früher oder später erscheint alles belanglos. Außerdem muss jeder die Erfahrung machen, wie viel Erinnerung und Erfahrung er ertragen kann. Agatha ist jedenfalls der lebende Beweis dafür, dass die Unsterblichkeit nicht für alle von uns ein Geschenk ist.«
Auch wenn sie sich dessen kaum bewusst war, nickte Lea zustimmend. Es wollte ihr nicht gelingen, den Blick von diesem überspannten Schmetterling namens Agatha zu lösen. Selbst die Eröffnung, sich mit einer weiteren von Dämonen besessenen Person in einem Raum zu befinden, änderte nichts an ihrer Gebanntheit. Zu sehr schillerte der Ausdruck völliger Verwirrung auf dem reizvollen Gesicht, als dass sie Angst empfunden hätte.
»Es ringelt sich ganz mächtig, wenn man draufdrückt. Das habe ich dir gesagt, aber du ...«, klagte Agatha mit einer ungeahnt sinnlichen Stimme, immer noch im Türrahmen stehend. Für einen kurzen Augenblick glühte in den grauen Augen ein Lebensfunke auf. Dann, genauso plötzlich, wie Agatha angefangen hatte zu sprechen, verstummte sie auch wieder. Ihr Zeigefinger, der aufgeregt durch die Luft gesaust war, fuhr noch eine Weile länger auf und nieder, ohne jedoch einen rechten Zweck zu verfolgen. Mit einem Mal reckte Agatha den Hals, als hätte jemand nach ihr gepfiffen. Mit großen Schritten ging sie auf das Wildledersofa zu und ließ sich nieder. Ganz akkurat, Knie an Knie, beide Hände neben der Hüfte abgelegt.
»Was genau ist sie?«, fragte Lea und versuchte gar nicht erst, ihr Erstaunen zu verbergen. Sie war einige Schritte zurückgewichen, »Ich würde sagen, sie ist so etwas wie ein exotisches Haustier«, erwiderte Pi. Als Reaktion auf Leas pikierten Blick fuhren beide Hände abwehrend in die Höhe. »O nein, sie gehört nicht mir, bewahre! Sie lebt zwar in meinem Haus, und ich genieße gelegentlich ihre Anwesenheit, aber sie ist Macavitys Spielzeug, wenn du es genau wissen möchtest.«
Ohne ihrer Unterhaltung Aufmerksamkeit zu zollen, ließ sich Agatha ein Stück weit vom Sofa gleiten, bis sie mit eingeschlagenen Beinen auf dem Boden zu sitzen kam. Die Schultern presste sie dabei tief in die Sitzfläche, bog den Rücken unnatürlich stark durch und legte zugleich den Kopf in den Nacken, so dass sich das platinblonde Haar fächerartig auf dem dunklen Grund des Sofas ausbreitete. Die geschlossenen Augenlider, auf denen ölig schwarzes Make-up glänzte, flatterten wie bei einer Schlafenden. Doch zwischen den leicht geöffneten Lippen drang von Mal zu Mal ein Stöhnen hervor, das in Leas Ohren nach einer perversen Lust klang.
Das Wickelkleid war ihr bis über die Hüften gerutscht. Wie hypnotisiert starrte Lea auf eine Ansammlung unzähliger Blutergüsse, mit denen die alabasterfarbenen Oberschenkel bedeckt waren. Weiter oben, wo die beiden Schenkel eng gegeneinander gepresst waren. zeichnete sich ein Blumenbouquet aus schwarz unterlaufenen Bisswunden ab.
Mühsam riss Lea den Blick von der abartigen Darbietung los und wünschte sich innigst, niemals Zeuge davon geworden zu sein. Doch es war zu spät, ihr Selbstschutz hatte versagt: Das Bild einer Frau, die ihre abstoßenden Verletzungen wie ein Kunstwerk vorführte, hatte sich in ihrer Erinnerung eingebrannt und würde Lea in unbedachten
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