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Morgenrot

Morgenrot

Titel: Morgenrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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begierig Gebrauch, denn trotz ihrer Furcht vor dieser nur scheinbar zerbrechlichen Gestalt quälte sie die Neugierde. Forschend betrachtete sie das ovale Gesicht mit seiner unnatürlich ebenmäßigen Oberfläche. Obwohl Pi laut Nadines Recherche sehr alt sein musste, zeigte sich nicht die geringste Spur der erlebten Jahre. Es schien viel mehr, als hätte die Zeit nach und nach alle Eigenarten abgeschliffen, die einen Menschen ausmachten.Vor ihr saß nur eine Hülle, die vorgab, Mensch zu sein. Lea schauderte, denn in Adams Gegenwart war ihr ein solcher Gedanke niemals gekommen. Adam war ein Mann, der einen Fremdkörper in sich trug, welcher ihn wie ein Stachel im Fleisch schmerzte. Pi hingegen machte sich nicht einmal die Mühe, das Menschsein überzeugend vorzugaukeln.
    Offensichtlich hatte er selbst seine Geschlechtlichkeit aufgegeben. Während Lea nach Merkmalen wie einem Bartschatten suchte, verstärkte sich der Eindruck, eine Frau vor sich sitzen zu haben. Das weich fallende, nougatfarbene Haar, die feinen Gesichtszüge ... nur die von dunklen Wimpern umrandeten Augen verrieten eine Spur von Männlichkeit. Die Augen selbst waren hart und unnahbar. Der Körper war der eines Kindes und damit kaum einem Geschlecht zuzuordnen, auch wenn die eng anliegende Kleidung vorgab, kein Geheimnis zu verbergen.
    Überrascht stellte Lea fest, dass ihre Zunge vor lauter Aufregung am Gaumen haften blieb, als sie den Mund aufmachte, um etwas zu sagen. Sie schloss die Lippen wieder und glaubte, ein feines Kichern zu vernehmen. Doch Pis Gesicht verriet keine Spur von Belustigung. Stattdessen wirkte er, als wolle er lediglich ein wenig Small Talk machen.
    Habe ich sowieso vorgehabt, sagte Lea sich. Eine Unterhaltung würde sie zumindest davor bewahren, sich in ihre Furcht hineinzusteigern. Außerdem hegte sie die Hoffnung, dass Pis Interesse, ihr etwas anzutun, nachlassen würde, wenn er sie als Individuum wahrnahm - war das nicht ein Trick, mit dem man Entführer davon abhalten konnte, ihrer Geisel ein Leid zuzufügen?
    »Ich hoffe, dass Abendessen hat keine Scherereien bereitet, indem es sich gewehrt hat?«, fragte Lea in einem ausgesprochen zuvorkommenden Ton, gerade so, als wolle sie sich nach dem allgemeinen Wohlbefinden erkundigen.
    Pi wedelte ein wenig nichtssagend mit einer Hand in der Luft herum. »Der Lärm ... tja, den hat wohl Macavity ausgelöst. Er ist eine spielerische Natur, deshalb ist Agatha auch so vernarrt in ihn.« Dann bereitete sich gespieltes Entsetzen auf seinem Gesicht aus, das von einer Geste unterstrichen wurde, indem er sich theatralisch die Hand auf den Brustkorb legte. »Du glaubst doch hoffentlich nicht, dass wir in diesem Haus so ungeschickt vorgehen, dass unser Essen Gelegenheit zum Schreien erhält?«
    Pi lächelte wissend, als Lea laut schlucken musste.
    »Wir sind schließlich zivilisiert. Oder hat sich Adam dir gegenüber vielleicht von einer anderen Seite gezeigt? Nein? Nun, zuzutrauen wäre es ihm ja durchaus. Ein wilder Bursche - das liegt an seinem ausgeprägten Jagdinstinkt. Gabe und Fluch zugleich, wenn du mich fragst.«
    Alle Härchen an Leas Körper stellten sich gleichzeitig auf. Da hatte Pi unleugbar ihre schwache Stelle getroffen. Denn obwohl sie für gewöhnlich eine unbezähmbare Neugierde an den Tag legte, hatte sie Adam niemals gedrängt, ihr über die Bedürfnisse des Dämons zu erzählen. Ihre Beziehung zu Adam war ohnehin schon kompliziert genug, auch ohne dass sie bei seinem Anblick jedes Mal an blutleere Leichen denken musste. Ihr hatte es gereicht, dass er einmal behauptet hatte, nicht »blutbesudelt durch die Gegend zu laufen«. Gemeinsam mit diesem flüchtigen Kommentar und Elementen der modernen Horrorliteratur hatte Lea sich eine eigene Theorie zusammengestückelt. Dabei ging es hauptsächlich um steril abgepackte Blutkonserven vom Schwarzmarkt. Eine saubere Sache ohne aufgerissene Halsschlagadern. Eine Vorstellung, an der man sich festhalten konnte, solange Pi mit seinen Bemerkungen keine Zweifel säte.
    Dabei litt Lea schon genug unter dem Wissen, zu welchen Gewalttaten Adam und seinesgleichen fähig waren - das war ihr damals in Etienne Carrieres Haus eindrücklich demonstriert worden. Der Schreck war immer noch lebendig und sorgte dafür, dass Lea sich keinen einzigen Augenblick lang in Pis Gegenwart entspannen konnte. Ganz gleich, wie unschuldig er sich in den Polstern rekelte.
    Krampfhaft suchte sie nach einem unverfänglichen Gesprächsthema. Doch mittlerweile war

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