Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
Tante Rosie.»
«Und was hat sie getan?»
«Gelesen.»
Tante Becky schien amüsiert. «Was denn?»
Gaylord dachte an den Haufen Silben. «Psychologo... irgendwas mit Lokomotive», sagte er auf gut Glück.
«Großer Gott.»
«Und dann wurde sie ganz komisch.»
«Komisch?»
«Ganz verdreht. Ich glaube, sie wollte mich nicht bei sich haben.»
«Arme Rosie», murmelte Becky faul und zufrieden.
Jetzt fand Gaylord es an der Zeit, Opas Diagnose anzubringen. «Sind ihre verflixten Nerven», sagte er.
Tante Becky warf den Kopf zurück und lachte. Zwischen ihren weißen Zähnen konnte Gaylord die kleine rosa Zunge sehen. Er streckte einen Finger vor und berührte sie. «Was hast du denn gemacht?» fragte er.
«Geträumt.»
«Wovon?»
«Von Männern», erwiderte Becky und rekelte sich genußvoll. Ziemlich langweiliger Traum, fand Gaylord. «Willst du eine Tasse Tee?» fragte er.
«Das wäre himmlisch.»
Gaylord krabbelte aus dem Bett, zog wieder seinen Schlafanzug hoch und trabte zur Tür.
«Geht wie der Blitz», verkündete er. Dann ging er zu Mummi und Paps.
Zu seiner Verwunderung lag Mummi allein im Bett. «Mummi, wo ist denn Paps?» fragte er.
«Auf dem Dachboden», sagte Mummi.
Gaylord ging zum Toilettentisch und spielte mit den Sachen herum, die dort lagen. «Warum ist Paps auf dem Dachboden, Mummi?» fragte er.
«Weil er ein Schuft ist und wir wieder einmal verschiedener Meinung waren», sagte Mummi.
«Worüber denn?» fragte Gaylord.
«Uber Geld», antwortete Mummi.
Gaylord kletterte auf den Dachboden. Paps lag dort eingewickelt in einen Wust von Armeewolldecken auf einem Feldbett und sah aus wie eine ägyptische Mumie, deren Verpackung sich gelöst hat. Verzweiflungsvoll suchte er, sich schlafend zu stellen.
«Warum schläfst du denn auf dem Dachboden, Paps?» fragte Gaylord.
«Ich schlafe ja gar nicht», sagte Paps. «Ich habe geschlafen, aber man hat mich brutal geweckt.»
Sanfte Vorwürfe gehörten auch zu den Dingen, gegen die Gaylord unempfindlich war. «Es muß doch ziemlich kalt sein auf dem Dachboden», sagte er.
«Ist es auch», sagte Paps. «Saukalt.»
«Mummi schien es sehr gemütlich zu haben», sagte Gaylord. «Willst du eine Tasse Tee?»
«Bitte», sagte Paps und drehte sich zur Wand.
Voller Eifer begab sich Gaylord an sein karitatives Werk. Unten in der Küche drehte er erst einmal den Kaltwasserhahn weit auf. Dann preßte er den Finger unter die Hahnöffnung. Köstlich spritzte das Wasser durch die Küche und über Gaylord. Er betrachtete seinen triefenden Schlafanzug und strich im Geiste Mummi von der Teeliste. Allmählich entwickelte er einen sechsten Sinn dafür, worüber Mummi sich aufregen würde. Eigentlich hatte er für Mummi nicht sehr viel übrig. Sie waren zu oft verschiedener Meinung.
Er suchte ein Sammelsurium von Tassen und Untertassen zusammen, stellte sie auf ein Tablett und füllte die Tassen zur Hälfte mit einem Brei aus Zucker und Milch. Dann setzte er den großen Kessel auf den Gasherd.
Das Wasser brauchte lange. Gaylord begann sich zu langweilen. Mummi hatte ihm einmal von einem kleinen Jungen erzählt; der hatte, als das Wasser kochte, einen Löffel über die Kesseltülle gehalten und so die Dampflokomotive erfunden. Als das Wasser endlich kochte, probierte Gaylord das aus. Der Deckel flog durch die Gegend. Was das mit einer Dampflokomotive zu tun hatte, war Gaylord unklar, aber er beschloß, eines Tages etwas Eigenes zu erfinden; nur daß die Dampflokomotive bereits erfunden war und ihm im Moment nichts anderes einfiel, was er hätte erfinden können, machte das Ganze so kompliziert.
Er kippte ein Viertelpfund Tee in die Kanne. Als vorsichtiges Kind drehte er das Gas ab und ließ den Kessel erst ein bißchen abkühlen, ehe er den Tee aufgoß. Schließlich war alles fertig, und die Tassen konnten gefüllt werden. Oben auf dem Tee schwammen so viele Blätter, daß das Erzeugnis eigentlich eher wie Kräutersauce als wie Tee aussah; aber er fand, das mache nichts aus. Mit dem Tablett beladen, stapfte er die Treppe hinauf.
Die erste Tasse brachte er Opa, der einen Blick auf das höllische Gebräu warf und schauderte. «Ich laß ihn besser noch ein bißchen abkühlen», sagte er.
«Er ist kühl», sagte Gaylord.
Er ging zum Fenster und sah hinaus. Es war ein eisiger Novembertag: wie ein Kranker, der zwar atmet, aber nichts sieht und fühlt, sondern unbeweglich daliegt, würde der Tag dahindämmern, bis die winterliche Dunkelheit das Land wieder
Weitere Kostenlose Bücher