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Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Titel: Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Malpass
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wirklich Humor zu haben, und diskutierten höchst ernsthaft über Kunst und Literatur ohne eigene Vorstellungen und ohne Verständnis. Nicht, daß Becky einen Pfifferling für Kunst oder Literatur gegeben hätte. Aber sie merkte sofort, wenn sich jemand bloß wichtig tun wollte.
    Jetzt mußte Rose Farbe bekennen. «Es ist ein Mr. Roberts. Er unterrichtet in den Oberklassen», erklärte sie.
    «Rose!» Beckys Augen glitzerten vor Amüsement und Neugier. «Ein Mann!»
    Großtante Marigolds Hörapparat funktionierte ausgezeichnet. Bei wichtigen Nachrichten allerdings verlangte sie eine besondere Bestätigung. «Was hat sie gesagt, John?» fragte sie.
    «Daß sie einen Kerl zum Abendessen eingeladen hat», dröhnte Opa.
    «Hört, hört.» Großtante Marigold strahlte und gluckste. «Rose auf Liebespfaden. In ihrem Alter.»
    «So ist es ja gar nicht», sagte Rose hitzig.
    «Ist er Tante Rosies Liebhaber?» fragte Gaylord, der in seinem Brei von Bratensauce und Kartoffelpüree herumrührte.
    Roses bleiches Gesicht hatte die unangenehme Farbe von dunklem Purpur angenommen. «Bobs... Mr. Roberts... ist nur ein Freund von mir. Wir... wir interessieren uns beide für Psychologie. Mehr nicht.» Sie stotterte weiter: «Da gibt’s... nichts Albernes.»
    «Ich finde Sex keineswegs albern», sagte Becky im Brustton der Überzeugung.
    «Also jedenfalls ist nichts zwischen uns», sagte Rose.
    Gaylord sah aus dem Fenster. «Es wird immer nebliger», bemerkte er. «Ich geh jede Wette ein, daß Tante Rosies Liebhaber, wenn er kommt, hier übernachten muß. Dann schläft er bei...»
    «Gaylord!» rief Mummi, die zwar nicht wußte, was er sagen wollte, aber das Schlimmste befürchtete.
    «...bei Paps auf dem Dachboden», fuhr Gaylord fort, der sich nicht so leicht mattsetzen ließ.
    «Ich schlafe nicht auf dem Dachboden», sagte Paps.
    «Wirklich nicht, mein Lieber?» fragte Mummi zuckersüß.
    Aber Rose sah ängstlich aus dem Fenster. Gaylord hatte ganz recht. Der Nebel kam herangezogen wie eine Besatzungsarmee, stieg aus den grauen Feldern und wallte über die Wiesen. Wenn Bobs nun tatsächlich nicht kam. Wie dumm stand sie dann da. Die Familie würde sich ein Fest daraus machen. Es war einfach ungerecht. Beckys junge Männer wurden nie aufgehalten. Die brausten in ihren Sportwagen daher, schnell und selbstsicher wie junge Adler, oder sie kamen auf schweren Motorrädern angedonnert. Aber Bobs, der in seinem alten Morris durch die Windschutzscheibe blinzelte... Bobs war leider ganz anders. Lieber Gott, laß ihn kommen, betete sie. Wenn er nicht kam, würde sie vor Scham und Liebeskummer einfach sterben.
    «Wird immer dichter», verkündete Gaylord strahlend. «Ich wette, Tante Rosies Liebhaber findet überhaupt nicht her.»
    «Ach, halt den Mund», fuhr Tante Rosie ihn an.
     
    Der Sonntagnachmittag war nichts für Gaylord. Alle machten ein Schläfchen. Er beschloß, sich zu verkrümeln.
    Er schlüpfte in den Hinterhof hinaus und wurde sofort vom Nebel verschluckt.
    Gaylord liebte den Nebel. Es wäre sicherlich ganz leicht, überlegte er, darin verlorenzugehen. Die ganze Familie würde ihn mit Sturmlampen suchen und schließlich seinen kleinen, steifen, kalten Körper finden, nur wenige hundert Meter vom Haus entfernt. Bei diesem Gedanken kamen ihm fast die Tränen.
    Das Tageslicht verging bereits. Unter den Bäumen, die wie lauernde Riesen emporragten, bildeten sich Schatten, die aussahen wie dunkle Tümpel. Gaylord schlenderte den Heckenweg hinunter. Im Grunde wußte er genau, wie schwer es war, verlorenzugehen. Aber ein Versuch konnte nichts schaden.
    Er kam zu seinem Lieblingsplatz, einem alten, von Bäumen überhangenen Steinbruch, auf dessen Grund ein Gewirr von Silberbirken, abgestorbenen Oleanderzweigen und Brombeerranken wucherte, an denen vereinzelt noch dürre Beeren hingen. Hier war der Nebel am dichtesten. Totenstille.
    Gaylord stampfte durchs Dickicht. «Hallo, Gaylord», rief eine sanfte, freundliche Stimme.
    Gaylord erschrak zu Tode, ließ sich aber nichts anmerken. Er blieb stehen.
    «Was machst du denn hier?» fragte die Stimme.
    Gaylord spähte umher. Durch den Nebel hindurch lächelte ihm ein bleiches Vollmondgesicht entgegen. «Ach, Willie. Ich wußte gleich, daß du es bist», sagte Gaylord ungeheuer erleichtert.
    «Ziemlich neblig», sagte Willie. «Wollen wir Spazierengehen?»
    Das war aufregend. Zu der Möglichkeit, im Nebel verlorenzugehen, kam noch hinzu, daß Mummi ihm den Umgang mit Willie verboten hatte.

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