Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
ihm sprechen, dringend. Oder sollte ich gleich zu Gaia gehen? Ich sehe zu dem Nevis auf meiner Wand. Er bleibt stehen und streicht gedankenverloren dem weißen Wolf über den Kopf. Seine Kristallaugen sind in die Ferne gerichtet.
»Welches Geheimnis trägst du in dir?«, flüstere ich und hebe die Hand an sein Gesicht. Die Wand holt Nevis näher für mich heran, so dass seine eisigen Augen plötzlich in voller Größe vor mir sind. Kurz schrecke ich zurück, doch dann genieße ich es einfach nur, mich unbemerkt in ihnen zu verlieren und spüre noch einmal tief in mir nach, ob ich nicht immer noch das Gefühl seines Körpers an meinem in mir trage. Es ist noch da … und es hinterlässt eine Sehnsucht, die ich vorher noch nie gespürt habe.
4. ES WAR EINE MUTTER, …
Leise summe ich das alte Kinderlied über Gaia und ihre Söhne vor mich hin, während ich mich für das Frühstück fertig mache. Ich sehe aus dem Erker hinaus auf einen blühenden Kirschbaum und schüttele meinen Kopf. Was für ein eigenartiger Ort ist das hier nur? Ob Gaia böse mit mir sein wird?
»Ich hoffe, du hast Recht«, sage ich zu dem Nevis an meiner Wand, »und sie denkt auch, dass ich schon genug bestraft wurde.«
Ich entscheide mich für ein wunderschönes, langes Maxikleid mit einem traumhaften, nicht kitschigen, floralen Muster. Da ich meine Oberarme noch nie sonderlich ansehnlich fand, ziehe ich mir einen weißen Bolero drüber. Ich betrachte mich zufrieden im Spiegel … ein wenig sehe ich aus wie die Frau des Frühlings und ich hoffe, dass sich Aviv darüber freuen wird. Obwohl ich das Kleid Gaia zuliebe ausgewählt habe. Die Göttin trägt, wenn sie denn mal von mehr als ihren Blumen bekleidet ist, immer nur Kleider und ich habe vor sie heute ein wenig zu erfreuen. Ärger habe ich gestern Abend schon genug gemacht.
Ein Blick zur Wand zeigt mir, dass Nevis verschwunden ist. Stattdessen ist nun ein starres Bild von ihm zu sehen. Anscheinend ist er wieder im Haus und wird deswegen von den Wänden nur als Bild gezeigt.
»Interessant«, nuschele ich vor mich hin und stecke mir Perlenohrringe in die Ohrläppchen. Mit Erstaunen stelle ich fest, dass die Blume des Frühlings in meinem Haar sich denen auf meinem Kleid angepasst hat. Ihr zartes Gelb sticht nun aus meinem Rot hervor. Gedankenverloren greife ich nach meinem Zopf und lege ihn mir über die rechte Schulter, so dass ich ihn in voller Länge sehen kann. Die Symbole der Jahreszeiten prangen besitzergreifend darin und lassen mein Herz einen Moment lang flattern. Irgendwie habe ich plötzlich das Gefühl, etwas ändern zu müssen. Diese endgültige Entscheidung, die ich hier zu treffen habe, kann doch nicht der einzige Weg sein, oder?
Ich schlucke den Gedanken herunter, atme tief durch und richte mich auf. Gaia erwartet mich sicher schon beim Frühstück und genau dort werde ich jetzt hingehen. Entschlossen gehe ich zur Tür, reiße sie auf und will hinausstürmen, doch ich pralle gegen etwas … jemanden.
»Oh«, stammele ich und starre auf einen dunkelblauen Pullover, dessen V-Ausschnitt mit kleinen Knöpfen versehenen ist. Die Haut meines Gegenübers ist blass und als ich aufschaue und direkt in zwei schwarze Pupillen blicke, die jeweils von einem Ring aus Eiskristallen umgeben sind, weiß ich auch, warum. Erstaunt sehe ich an Nevis herab. Er trägt nicht mehr die hellblaue Kleidung von gestern, sondern schwarze Winterstiefel, Jeans und den Pullover, den ich eben noch angestarrt habe. Hat er das auf der Wand auch schon getragen? Ich weiß es nicht mehr. Nevis‘ Augen wirken für einen Moment erschrocken, ja fast ängstlich, doch sie fangen sich wieder und die Fenster in seine Seele frieren abermals zu. Ein Hineinsehen ist unmöglich und ich frage mich, ob er noch hinaussehen kann oder ob, was auch immer ihn quält, seinen Blick ganz verschleiert.
»Hey«, sage ich schüchtern.
»Hey«, antwortet er und seine Stimme klingt erstaunlich sanft.
»Willst du sichergehen, dass ich mich nicht wieder nach draußen verlaufe?«
Nevis‘ Mundwinkel zucken einen Moment, doch dann wird seine Miene wieder ernst. »Nein, ich komme zufällig hier vorbei und laufe gleich in dich hinein.«
»Och, du Ärmster«, sage ich gespielt reumütig.
Seine Augen wirken wieder für einen Moment verletzlich und tasten mein Gesicht fragend ab. Schließlich scheinen sie zu dem Ergebnis zu kommen, dass ich einen Scherz gemacht habe.
»Lass uns gehen«, sagt er schließlich, ohne weiter darauf
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