Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
einzugehen.
»Warte«, bitte ich ihn und schaue mich im Flur um. Niemand zu sehen. Ich greife nach seiner Hand und ziehe ihn in mein Zimmer. Als ich die Tür hinter uns ins Schloss drücke, fällt mir wieder ein, was auf meiner Wand zu sehen ist. Nevis starrt sein Bild an und scheint mehr als nur verwirrt zu sein.
»Du musst mir einiges erklären«, sage ich und versuche mein puterrotes Gesicht und meine Nervosität mit fester Stimme zu überspielen.
Nevis‘ Blick wandert ungläubig zu mir herüber. »Was?«, haucht er und schluckt. »Was willst du wissen?«
»Was hattest du da draußen zu suchen?«, platze ich heraus. »Ich habe an dich gedacht, als diese blöde Eingangstür aufging, und im Gegensatz zu mir wusstest DU, was bei Nacht da draußen passiert!«
»Du denkst zu viel an mich«, wispert Nevis kaum hörbar und wandert mit gedankenverlorenem Blick zu dem Erker und starrt hinaus.
»Was ist das eigentlich für ein merkwürdiger Kirschbaum, der nie Früchte trägt?«, frage ich leicht motzig, weil er nicht so aussieht, als würde er meine erste Frage beantworten wollen.
»Der Baum«, sagt Nevis, als wäre ihm gerade erst etwas aufgefallen. »Du hast Recht, er IST seltsam.«
»Du ehrlich gesagt gerade auch«, nuschele ich, doch der Winter starrt mit großen Augen zum Fenster hinaus und beachtet mich gar nicht. Plötzlich verspüre ich wieder den Drang, mit meinen Händen eine von seinen zu ergreifen, doch ich gebe ihm nicht nach und balle sie stattdessen zu Fäusten. »Also? Antwortest du mir jetzt oder nicht?«
»Ich habe etwas gesucht«, sagt er schließlich und löst seinen Blick von dem Fenster, um mich mit seinen frostigen Augen zu durchbohren.
»Und da gehst du ausgerechnet raus, wenn da draußen die Hölle losbricht?« Ungläubigkeit schwingt in meiner Stimme mit.
»Ich war rechtzeitig wieder auf der Veranda. Doch als ich dann an dich …« Er stoppt und mir wird klar, dass er an mich gedacht hat. Gaias Welt hat ihn dann zu mir gelenkt. Aber wieso will er das nicht zugeben? »Jedenfalls habe ich dich gerettet und du solltest dankbar sein, statt mich mit Fragen zu bombardieren.« Er sieht mich so vorwurfsvoll an, dass Wut in mir hochkocht.
»Wieso willst du mich nicht, Nevis?«, platzt es aus mir heraus.
Sein Blick wird wieder einen Moment lang weich. »Wieso sollte ich?«, fragt er vollkommen perplex.
Wieso? Wieso? Wieso? Nun bin ich nicht mehr vor Scham rot, sondern vor Wut. Was habe ich ihm getan, dass er mich so ablehnt?
»Ich habe Hunger«, zische ich und drehe auf dem Fuß um. Wütend gehe ich zur Tür und marschiere festen Schrittes direkt bis zum Speisesaal.
Bisher sind nur Gaia und Jesien da und sie beide staunen nicht schlecht, als ich schon wieder in Nevis‘ Begleitung den Raum betrete.
»Ich hatte dich gewarnt, Maya«, sagt Gaia, doch ihr Blick ist warm und mütterlich und ich atme erleichtert aus. Statt zu versuchen, mich aus der Sache heraus zu reden, neige ich dankbar für ihre Gnade den Kopf und setze mich dann auf meinen Platz. Jesien setzt sich grinsend zu mir. Auch er trägt heute nicht mehr seine unifarbene Kleidung, sondern einen tiefgrünen Pullover, der das feurige Rot seiner Haare förmlich lodern lässt. Warme, braune Augen mustern mich amüsiert.
»War ziemlich tödlich da draußen, was?«, gluckst er und ich grinse ihn verlegen an.
»Kann man so sagen.«
Nevis nimmt neben Jesien Platz, welcher ihm kumpelhaft auf die Schulter klopft.
»Zum Glück war unser Nesthäkchen hier auch eine Runde spazieren«, sagt Jesien und irgendetwas scheint ihn sehr an meinem Unglück gestern Abend zu amüsieren. »Genau der richtige Mann, um über Feuer zu gehen.«
»Jesien«, zischt Nevis seinem Bruder zu. »Lass das.«
»Was denn? Ich will doch nur sagen, dass man Feuer gut mit Eis bekämpfen kann.«
»Guten Morgen«, ruft Sol in die Runde und unterbricht damit den kleinen Streit zwischen den kalten Jahreszeiten. »Habt ihr ins Bett gemacht, oder wieso sitzt ihr schon hier herum?«
»Und du hast wohl gut geträumt?«, kontert Jesien mit amüsiert hochgezogenen Augenbrauen. Sol kommt zu mir, nimmt eine meiner Hände und drückt ihr einen Kuss auf.
»Guten Morgen, schöne Frau!«
Wow, was ist plötzlich los mit ihm?
»Guten Morgen«, stammele ich und erröte.
Sol trägt im Gegensatz zu den anderen noch seine kurze gelbe Hose, aber dieses Mal ein weißes Achselshirt und sieht wie immer verdammt gut aus. Heute scheint er allerdings besonders gute Laune zu haben. Verlegen
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