Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
möchte ich nicht hoffen. Dann werde ich nur enttäuscht.«
Nevis nickt in stummer Zustimmung, was mir das Herz bricht. Sein Blick klebt am Boden fest, während sein Gesicht einen Moment unheimlich traurig und verletzlich wirkt.
»Ich glaube, ansonsten wärst du mein Favorit.«
Sein Blick schießt hoch und durchbohrt mich wütend. Ich kann sehen, dass er etwas sagen will, aber nicht die richtigen Worte findet.
»Tut mir leid, wenn du das nicht hören wolltest. Es ist nur so, dass ich bei dir nicht das Gefühl habe, dass du um jeden Preis eine Frau haben willst. Egal wie sie aussieht, wie sie heißt, wer sie ist und wie sie tickt. Irgendetwas sagt mir, dass du nach echter Liebe suchst.« Ich sehe in seine weit aufgerissenen Augen. »Volltreffer?«
»Nein«, zischt er. »Liebe ist das Letzte, was ich suche.« Seine Kiefer mahlen und ich spüre Protest in mir aufkeimen. »Liebe … Leidenschaft, das alles verletzt nur. Es schreit förmlich nach gebrochenen Herzen.« Er rückt einen Schritt näher an mich heran. Ich kann seinen kalten Atem auf meinem Gesicht fühlen, als er seinen Kopf zu mir herunterbeugt. »Ich bin unsterblich. Die Frauen, die zu uns kommen, nicht. Ich kann nicht wie meine Brüder einfach vergessen.«
»Also bleibst du lieber ohne Partnerin?«, frage ich mutig. »Hat dich deshalb noch keine gewählt, weil du ihnen, genau wie mir, klargemacht hast, dass du sie nicht willst? Fürchtest du ein gebrochenes Herz so sehr?« Da er nichts sagt, spreche ich weiter. »Oder hast du in Wirklichkeit nur Angst davor, zurückgewiesen zu werden?«
»Bei den anderen bedurfte es keiner Warnung«, knurrt er schließlich. »Niemand will freiwillig in den Winter.«
Mitleid durchflutet mich. Er muss sehr, sehr traurig und einsam sein und versteckt dies sorgsam hinter einer meterdicken Schicht Eis. Da er mit seinem Gesicht so nah ist, ist es mir ein Leichtes, eine Hand in seinen Nacken zu legen und ihm einen schnellen, aber sanften Kuss auf seine linke Wange zu geben. Ich verharre einen Moment dort und fühle die weichen Haare in seinem Nacken, inhaliere seinen Duft nach frisch gefallenem Schnee.
»Ich hoffe für dich, dass du dich eines Tages von irgendjemandem lieben lässt«, flüstere ich heiser und erröte.
Nevis ist wie erstarrt und ich weiche einen Schritt zurück, um ihm in die Augen zu sehen. Sie starren auf einen Raum zwischen uns ins Nichts. Das Eis in ihnen bröckelt, schmilzt und macht sie wässrig. Durch den Schimmer des frisch geschmolzenen Eises kann ich seine verwundete Seele entdecken.
»Ich werde die Woche mit zu dir kommen«, sage ich. »Ob es dir gefällt oder nicht. Ich kann nur hoffen, dass du sie mir nicht absichtlich zur Hölle machst, damit ich nur ja nicht näher an dich herankomme. Du hast bereits ein gebrochenes Herz, Nevis. Die Kälte, mit der du dich selbst umgibst, sorgt nur dafür, dass du es nicht spürst.«
Er schluckt und sieht mich plötzlich an. »Ich bringe dich zurück. Es war ohnehin keine gute Idee, mit dir hier draußen herumzulaufen.«
»Gut«, sage ich beinahe tonlos. Einen Moment lang sehe ich ihm nach, doch dann hole ich ihn eiligen Schrittes ein, halte jedoch gut einen Meter Abstand zu ihm.
Beim Mittagessen starren mich Sol und Aviv gespannt an. Jesien sieht ebenfalls zu mir hinüber, aber ich glaube er will nur wissen, wie mir die Nudeln mit der hellen Soße schmecken. Ich stecke mir eine in den Mund und nicke ihm mit einem Lächeln zu. Zufrieden widmet er sich seinem Essen, aber Sol und Aviv werfen mir immer noch verwunderte Blicke zu. Nevis tut das, was er immer tut. Er starrt sein Essen an, doch dieses Mal wirkt er – ich weiß nicht, noch nachdenklicher? Nein, das ist kaum möglich. Irgendwie wirkt er aus der Bahn geworfen und … angreifbar.
»Was hast du mit ihr gemacht, Nevis?«, fragt Sol plötzlich amüsiert. »Sie sieht verstört aus.«
Nevis‘ Blick gleitet für eine Sekunde zu mir. »Nichts«, murmelt er.
»Du siehst auch nicht gerade glücklich aus«, stellt Aviv schadenfroh fest. Dass seine ganze Mimik so glücklich über diesen Umstand wirkt, schlingt mir einen großen, festen Knoten im Bauch. Ich sehe zu Gaia, die ihren jüngsten Sohn betrachtet. Ihr Gesicht verrät nichts darüber, was sie denkt. Über ihrem rechten Ohr blüht plötzlich eine große Primel. Eine Blume, die man auch im Schnee finden kann. Nevis hebt seinen Kopf und sieht seine Mutter an. Unter seinem Blick überzieht sich die Primel mit Frost und Mutter und Sohn lächeln
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