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Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)

Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)

Titel: Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Wolf
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alten Filmen der Menschen. Sein dunkelcremefarbener Stoff ist seidig und glatt. Es hat keine Träger, aber eine Schärpe aus weinroten Blättern verläuft quer über meine Brust. In meinen Haaren hat sich eine Weinrebe verflochten und lässt mich aussehen wie das, was ich nun bin: Die Frau des Herbstes.
    »Komm, du dummes Ding«, sagt Jesien liebevoll und zieht etwas fester an mir, so dass ich mich loslösen kann und ihm in meine neue Heimat folge. Was meine Mutter und Iria wohl von meiner Wahl halten werden?
    »Wieso musste er sich so danebenbenehmen?«, seufzt Jesien am Abend, nachdem ich ihm von meiner kurzen Zeit bei Nevis berichtet habe. »Unglaublich, dieser sture Bock!«
    Ich habe mir etwas Bequemes angezogen und sitze mit ihm auf dem Sofa. Ein heißer und wohlduftender Apfeltee wärmt meine zittrigen Hände durch die Tasse.
    »Er hat sich das alles selbst zuzuschreiben. Für dich tut es mir nur leid.« Braune Augen sehen mich mitleidig an.
    »Schon gut, du wirst mir sicherlich ein schönes Leben bereiten, oder?« Der Knoten in meinem Magen trägt einen Namen: Nevis. Nur er kann ihn auflösen, also werde ich ihn wohl mein Leben lang mit mir herumtragen.
    »Ich spüre ihn an der Grenze unserer Länder«, sagt Jesien und ignoriert meine Frage.
    »Was?« Ich bin sofort alarmiert und springe fast hoch.
    »Beruhige dich, Maya. Du kannst durch Mutters Abtrennung nicht mit ihm sprechen.«
    Mir würde es schon reichen, ihn zu sehen, aber das traue ich mich nicht zu sagen, also sinke ich enttäuscht wieder zusammen. Ich bin an allem selbst schuld. Wieso habe ich mich nicht einfach für ihn entschieden? Weil er mich dann hundert Jahre lang mit Ablehnung gestraft hätte, nur um nachher nicht an meinem Verlust zu leiden, erinnert mich eine kleines Flüstern im Hinterkopf und ich stimme ihm kopfnickend zu.
    »Hier werde ich es besser haben«, denke ich laut, doch Jesien sieht mich zweifelnd an.
    »Mag sein, ja«, sagt er und kräuselt seine Stirn. Ein paar seiner roten Haare stehen ihm wirr vom Kopf ab. »Verzeih mir, aber es ist Nevis, dem meine größte Sorge gilt. Ich hatte fest damit gerechnet, dass du ihn in den Griff bekommst und nun … wer weiß, wann die nächste Auserwählte kommt, die ihn interessiert.« Der Herbst seufzt und zieht seine Beine an. Nachdenklich beginnt er mit dem Saum seiner Socken zu spielen. Ich stecke meine Nase in die Tasse mit Tee und lasse mir das Gesicht vom duftenden Dampf wärmen. Seit meiner Entscheidung friere ich am ganzen Körper, ohne dass mir wirklich kalt ist.
    Ich werde hier glücklich sein, rede ich mir selbst gut zu, Jesien ist ein guter Freund und wird mich immer gut behandeln. Es ist eindeutig zu viel Vernunft in meiner Überlegung und zu wenig Herz. Ich schließe meine Augen und spüre Nevis‘ Lippen auf meinen, … die Wärme seines Körpers neben mir.
    Ich habe mich falsch entschieden.
    Jesiens Arme legen sich zärtlich um mich. Sein Kopf kommt nah an meinen heran. »Soll ich dich zu ihm an die Grenze bringen?«, fragt er und ich nicke. »Dann zieh dir eine Jacke und eine Mütze an. An der Wintergrenze ist es kälter als hier.«
    »Ja, … ja«, stammele ich leise und stelle die Tasse auf dem kleinen Tisch vor mir ab. »Ich bin sofort zurück.«
    Als wir bei Nevis ankommen, lehnt er mit gesenktem Kopf gegen die unsichtbare Mauer und scheint mit aller Gewalt gegen sie zu schlagen. Er bemerkt uns zuerst nicht, so dass ich bereits vor ihm stehe, als er aufsieht und erschrocken zurückzuckt. Die Wand schimmert und schillert, weshalb ich ihn nicht genau erkennen kann, jedoch sehe ich wie er erneut gegen unsere Trennwand schlägt. Auf meiner Seite hört man nicht mal ein leises Klopfen. Jesien tritt an meine Seite und schüttelt seinen Kopf. Nevis sieht ihn kurz an. Er wirkt wütend. Auf sich selbst. Als er seine Aufmerksamkeit wieder mir schenkt, verändert sich seine Mimik jedoch wieder. Durch diese flirrende Wand ist es schwer zu sagen, aber ich glaube, dass ich sehen kann, wie seine Augen mich um Verzeihung bitten. Langsam legt er eine Hand auf die magische Barriere und sieht von mir zu ihr hinunter und wieder zurück. Ich lege meine auf die andere Seite und lasse meinen Kopf sinken, weil mir plötzlich die Kraft dafür fehlt, ihn aufrechtzuhalten.
    Ich kann nicht mit ihm reden. Nie wieder. Aber wir können uns sehen und das tun wir. Jeden Morgen und jeden Abend sitzen wir uns für einige Zeit an der Grenze gegenüber. Wir treffen uns immer an der gleichen Stelle. Immer

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