Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
eigentlich entspannten Zustand sieht man die Bitterkeit in seinen Gesichtszügen. Ich betrachte die schneeweißen Haare, die wie ein Vorhang vor seinen geschlossenen Augen hängen, doch es dauert nicht lange und er schlägt sie auf. Müde und vielleicht auch ein wenig verwirrt reibt er sich über das Gesicht und streicht die Haare aus dem Weg.
»Guten Morgen«, flüstere ich. »Ich habe noch nie mit einem Mann in einem Bett geschlafen.«
Mein Bekenntnis scheint ihn ein wenig zu amüsieren, denn er lächelt kurz, bevor sein Gesicht die übliche Ernsthaftigkeit annimmt.
»Wie kommt es, dass du hier eingeschlafen bist?«, frage ich neugierig nach. Der Winter setzt sich auf und fährt sich erneut über Gesicht und Haare.
»Ich dachte, ihr Halbgötter müsst nicht unbedingt schlafen?«
»Manchmal schon«, sagt Nevis, das Gesicht von mir weggedreht. »Ich vielleicht öfter als meine Brüder.«
»Hm«, brumme ich zustimmend. »Du hast ja auch mehr zu tun als sie.« Irgendwie fühle ich mich schuldig. »Hätte ich gewusst, dass du so erschöpft warst, hätte ich dich schlafen geschickt.«
»Das war nicht der Grund, Maya«, seufzt er und dreht sich mir endlich zu. Der Winter wirkt noch müde und seine Augen sind offen und verletzbar. Es ist erstaunlich wie tief man ihm in die Seele blicken kann, wenn das dicke Packeis sie nicht zufriert. Macht er es deshalb? Ist er so unterkühlt, damit man nicht zu nah an ihn herankommt? Ich sehe ihn abwartend an.
»Es war so still«, sagt er beinahe tonlos. Plötzlich strafft er die Schultern und steht auf.
»Nevis?«, bringe ich noch so gerade heraus, bevor er zur Tür geht. Er bleibt im Rahmen stehen, mit dem Rücken zu mir.
»Iss etwas, bevor wir losgehen.« Damit verschwindet er und mir ist plötzlich eiskalt. Ich vermisse die Wärme seines Körpers neben mir.
Ein ungutes Gefühl brodelt in meinem Bauch, als ich mit Nevis an einem Fluss entlanggehe, der dicke Eisschollen mit sich reißt. Der Weg vor uns ist fast schneefrei, doch hin und wieder glatt und deshalb starre ich auf meine Füße hinab und passe auf, wo ich hintrete. Ein eisiger Wind streift mir über das Gesicht und ich bin froh, dass ich eine dicke Wollmütze, Schal und Handschuhe angezogen habe. Ein langer Mantel schützt den Rest meines Körpers.
»Ich kann das nicht mehr, Maya«, sagt Nevis unverhofft.
»Was meinst du?«, frage ich und sehe kurz zu ihm auf, bevor ich wieder aufpasse, wo ich hintrete.
»Du musst gehen.«
Ich bleibe stehen und sehe ihn an. Er merkt, dass ich nicht mehr folge und dreht sich zu mir um.
»Ich möchte, dass du Mutter rufst und deine Entscheidung triffst.«
»Und wenn ich dich wähle?«, frage ich grimmig.
»Das wirst du nicht«, antwortet er und scheint sich dessen sehr sicher zu sein. »Ehrlich gesagt möchte ich gar nicht wissen, wen du erwählen wirst, aber das wird sich nicht verhindern lassen.«
»Wieso soll ich jetzt schon gehen, Nevis? Nach allem, was gestern passiert ist.« Ich sehe ihm in die frostigen Augen, die keinerlei Emotion zulassen.
»Weil ich dich nicht mehr hier haben möchte.«
»Lüge«, hauche ich entsetzt von seiner Aussage, doch er sieht mich nur eiskalt an und verzieht keine Miene. »Wieso küsst du mich dann? Wieso schläfst du neben mir, wenn du mich doch so unbedingt loswerden willst?«
»Du kennst die Gründe, Maya.«
»Die sind Schwachsinn! Wenn du Angst davor hast, mich zu verlieren, wird es nicht besser, wenn du mich von dir stößt.« Meine Stimme wird immer lauter. »Wie wird es dir denn gehen, wenn ich jetzt gehe?«
»Sicherlich nicht so schlecht wie nach hundert Jahren.«
Ich wünschte, wir hätten Iria mitgenommen, aber er hat ja gewusst, was er mit mir besprechen will und sie vorsichtshalber daheim gelassen.
»Weißt du was, Nevis?«, zische ich gekränkt und verletzt. »Ich will dich gar nicht.«
Der Winter öffnet seinen Mund und will etwas sagen, doch er schließt ihn wieder und schluckt. Mehr Regung kann ich nicht erkennen.
»Gaia?«, rufe ich in die klirrendkalte Luft. »Mutter, bitte hole mich ab. Ich will meine Entscheidung treffen.« Nichts passiert. »Göttin?«
Hinter mir knirscht das Eis und ich drehe mich um. Vor mir steht die Mutter aller Dinge und sieht mich mit ihren Regenbogenaugen an. Sie trägt ein Kleid, welches so weiß ist wie der Schnee, der am Wegesrand liegt.
»Bist du sicher?«, fragt sie. »Es ist nicht üblich, die Zeit zu unterbrechen. Jedem meiner Söhne stehen diese Tage zu, sobald sie angebrochen
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