Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
liegt meine Hand auf seiner. Jesien bringt mich zu ihm, wenn er ihn an seiner Grenze spürt und lässt uns dann alleine. Die ersten Wochen sieht mir Nevis noch in die Augen und fleht mit ihnen um Verzeihung, doch mittlerweile hebt er nicht einmal mehr den Kopf. Er sitzt seitlich an die schimmernde Wand gelehnt, eine Handfläche für mich offen. Seinen Kopf lässt er hängen, so dass ich nur bedingt in sein Gesicht sehen kann. Manchmal begleitet ihn Iria und sitzt an seiner Seite. An einem Morgen erscheint Nevis nicht. Auch nicht am Abend, oder die Tage danach. Der Drang, ihn sehen zu müssen, treibt mich umher und lässt mich nur schlafen, wenn ich körperlich nicht mehr anders kann. Jesiens Eule Sowa beobachtet mich besorgt, als ich durch den Apfelhain wandere und immer wieder den Tag meiner Wahl abspiele. Die Stimme, die sich gegen Nevis ausgesprochen hatte, ist verschwunden und zurückgeblieben sind nur Schuldgefühle.
»Vielleicht hat er sich damit abgefunden«, sagt Sowa plötzlich über mir. »Du denkst doch an Nevis, oder?«
Ich sehe die Eule in der Krone eines Apfelbaums sitzen. Müde lächele ich sie an und zucke mit den Schultern.
»Ich weiß nicht«, seufze ich kraftlos. »Ich kann nur an seine Augen denken. Die Einsamkeit in ihnen und …« Es schüttelt mich und ich kann nicht weiter sprechen. Was habe ich nur getan? Durch kindische Sturheit habe ich mir die Chance auf … ja, auf was? Habe ich mir tatsächlich die Chance auf Liebe verdorben? Hätte ich bei Nevis Liebe finden können? Wäre er überhaupt dazu fähig, so verbohrt wie er ist? Ich bleibe stehen und raufe mein Haar, das ich nun seit Wochen offen trage. Diese Fragen habe ich mir schon hundert Mal gestellt und ich werde nie eine Antwort kommen.
»Das alles ist Jesien gegenüber so unfair«, denke ich laut.
»Mach dir keine Gedanken«, beruhigt mich Sowa. »Jesien hätte dich, so gern er dich auch hat, auch lieber bei Nevis gesehen. Er versteht, warum es dir nicht gut geht.«
»Das tut er, ja«, erklingt die Stimme des Herbstes. Meines Mannes. Ich drehe mich um und erblicke seinen roten Haarschopf und die freundlich funkelten Augen darunter. Er beißt herzhaft in einen Apfel und sieht im goldenen Licht der Abendsonne unglaublich gut aus.
»Es sieht so aus, als würdest du diese Nacht wieder keinen Schlaf finden, hm?«, fragt er und streichelt mir sanft über den Kopf.
»Doch«, sage ich entschlossen. »Ich werde jetzt mit dieser Trübsalblaserei aufhören und nach vorne sehen. Es ist nicht mehr zu ändern und ehrlich gesagt bist du mehr, als ich mir jemals erhofft hatte.«
»Aber ich bin nicht der Junge aus dem Schnee mit den eisblauen Husky-Augen und den weißen Haaren«, gluckst er und zwinkert mir zu.
»Ich frage mich ohnehin, warum ich ihn so vermisse. Er hat mich nicht gut behandelt.« Erschöpft lehne ich mich gegen den Baum auf dem die Eule sitzt und sehe durch den Hain zu der untergehenden Sonne. Der Anblick ist so traumhaft schön, dass mich eine Gänsehaut überzieht.
»Weil du dich auf den ersten Blick in ihn verliebt hast – und er sich in dich«, sagt Jesien und lehnt sich ebenfalls an den Baumstamm.
»Ach, du mit deinem Gerede von der Liebe«, seufze ich. Der Herbst lacht leise.
»Wollen wir an der Grenze spazieren gehen, damit Nevis meine Anwesenheit spürt? Vielleicht kommt er dieses Mal«, schlägt er vor und ich zucke innerlich. Die Versuchung ist groß, aber …
»Ich will nach vorne sehen!«, erinnere ich ihn, auch wenn selbst ein Tauber die Unsicherheit in meiner Stimme gehört hätte.
»Na, komm schon«, sagt Jesien, ergreift meine Hände und ehe ich mich versehe, stehe ich an der Stelle, die wochenlang mein einziger Trost gewesen ist. Der Knoten, den ich Nevis getauft habe, schnürt mir den Hals zu.
»Ob er kommen wird? Wir waren schon lange nicht mehr hier«, plappere ich nervös und gehe zu der Stelle, an der ich immer vor ihm gesessen hatte. Jesien folgt mir zum ersten Mal bis dorthin und lässt sich neben mir nieder.
»Wir werden sehen«, seufzt er und sucht mit seinen braunen Augen den Horizont ab. Auf Nevis‘ Seite ist jedoch kaum etwas zu erkennen, denn seit seinem Verschwinden tobt dort ein gewaltiger Schneesturm. Der einzige Grund, weshalb ich über diese magische Barriere froh bin.
»Mein kleiner Bruder leidet«, stellt Jesien fest und presst seine Lippen zu einer schmalen Linie, doch dann scheint etwas seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Was ist das denn?« Er rückt näher an mich
Weitere Kostenlose Bücher