Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
sind.« Wir sehen beide zu Nevis, welcher nickt.
»Ja, sie soll gehen«, presst er hervor.
»Bring mich hier weg, Mutter«, flehe ich und fühle mich dabei so verloren wie noch nie zuvor. Ich hätte mich gerne noch von Iria verabschiedet, aber ehe ich mich versehe stehe ich in der großen Eingangshalle von Gaias Haus. Auf der Treppe vor mir stehen die vier Jahreszeiten und sehen mich gespannt an. Außer Nevis. Der Winter weicht meinem Blick aus.
»Jetzt schon?«, gluckst Sol amüsiert und verschränkt die Arme vor seiner sonnengebräunten Brust. »War es zu kalt?«
»Irgendwie schon«, presse ich wütend hervor. »Das lag aber nicht am Schnee.«
Jesien schaut alarmiert von mir zu Nevis. »Hat er sich danebenbenommen?«, fragt er schließlich, bevor er wieder mir seine Aufmerksamkeit schenkt. Die braunen Augen des Herbsts flehen mich förmlich an keinen Fehler zu machen.
»Du hast deine Wahl bereits getroffen«, stellt Gaia fest. Mit zitternden Händen drehe ich mich zu ihr. Die Blumen auf ihrem Kopf erinnern mich an meinen Zopf. Ich ziehe ihn über eine meiner Schultern und stelle fest, dass er nun vollkommen schmucklos ist.
»Ja«, antworte ich gedankenverloren. Ich hebe meinen Kopf und sehe in Nevis‘ hellblaue Eisaugen. Sie erwidern meinen Blick so kalt, dass ich den Frost förmlich auf meiner Haut spüren kann. »Es gibt nur einen zu dem ich gehen kann.«
»Das ist so nicht richtig«, höre ich Aviv sagen. »Du kannst zu jedem von uns.« Er klingt nervös und unsicher.
»Dann triff jetzt deine Wahl«, flüstert mir die Göttin ins Ohr und legt eine Hand auf meine Schulter. Eine Blume wächst über ihren Arm auf mich hinunter und legt sich wie eine Kette um meinen Hals.
»Maya«, warnt mich Jesien und ich sehe zu ihm. »Überlege es dir gut.« Seine Augen sind riesig und sehen immer wieder kurz zu seinem kleinen Bruder hinüber, welcher vollkommen desinteressiert zur Seite blickt.
»Das habe ich«, antworte ich ihm und versuche meine Stimme zu festigen. »Ich wähle …«
Gaias Griff auf meiner Schulter verstärkt sich und alle scheinen die Luft anzuhalten. Man hört nichts außer dem leisen Vibrieren der lebendigen Wände um uns herum.
»Jesien«, bringe ich hervor. »Ich wähle den Herbst.«
TEIL 2
1. DEN TOD IM NACKEN
»Nein, Maya«, ruft Jesien und wendet sich Nevis zu. Er will ihn am Arm berühren, doch der Winter stößt ihn weg und verschwindet, ohne etwas zu sagen. Leider habe ich zu spät zu ihm hinübergesehen und so kann ich nur noch einen letzten Blick auf seinen Hinterkopf werfen. Das reicht aber auch vollkommen für die Erkenntnis aus, dass ich soeben mein Leben weggeschmissen habe.
»Gut gemacht, Bruder«, brummt Sol und stößt Jesien freundlich mit der Schulter an. »Lebwohl, Maya.« Damit verschwindet auch der Sommer. Aviv bleibt noch einen Moment stehen und sieht niedergeschlagen aus.
»Ich wünsche dir alles Gute, Maya.« Er sieht zu Jesien. »Bis zum nächsten Mal.«
»Leb wohl«, will ich ihm noch nachrufen, doch ich weiß nicht, ob er es noch mitbekommen würde. In meinem Bauch breitet sich Unwohlsein aus. Was habe ich nur getan?
»Maya, … wieso?« Jesien scheint sprachlos zu sein. Mit fragend aufgerissenen Augen sieht er mich kopfschüttelnd an. Gaias Hand verlässt meine Schulter.
»Ich setze die Hüterinnen von deiner Wahl in Kenntnis«, sagt sie und wendet sich an Jesien. »Bringe deine Frau nach Hause, Sohn. Ich wünsche euch beiden eine schöne Zeit.«
»Werde ich dich wiedersehen, Mutter?«, frage ich panisch. Sie lächelt mich freundlich an.
»Wenn deine Zeit gekommen ist, werde ich dich holen.«
Ich schlucke und lasse mir von der Göttin einen Kuss auf die Stirn geben. Dafür muss ich mich ziemlich weit hinunterbeugen, doch Gaias Hände an meinen Wangen führen mich sanft zu ihren Lippen.
»Die Liebe, die man oft ein Kind drum nennt. Weil ihre Wahl sich kindisch oft verrennt . William Shakespeare«, sind ihre letzten Worte an mich, bevor sie verschwindet und mich mit Jesien alleine lässt.
»Was tust du nur? Maya!«, schimpft dieser sanft und ergreift meine Hände. »Göttin, wie bekommen wir das nur wieder geradegerückt?« Vorsichtig will er mich zur Treppe ziehen, doch ich stehe dort wie angewurzelt. Vollkommen unter Schock. Nevis! In mir schreit alles nach ihm. Ich will ihn sehen, mit ihm sprechen … doch meine Wahl ist getroffen. Das Kleid, welches ich plötzlich trage, bezeugt dies. Es ist weit geschnitten, wie eines der Ballkleider aus den
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