Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
das Loch zu vergrößern. Ich helfe ihm von der anderen Seite. Die Barriere gibt tatsächlich nach und lässt sich Stück für Stück abtragen. Es ist ein wenig, als würde man an einem Eisblock kratzen, nur ohne Kälte. Gemeinsam schaffen wir es, ein Loch zu öffnen, durch das ich gerade so hindurchkomme, doch es hat länger gedauert als gedacht. Der Morgen graut bereits, als wir damit fertig sind. Ich nehme den Rucksack und werfe ihn durch das Loch, dann drehe ich mich zu Jesien und sehe in seine braunen Augen. Angst beherrscht seine Mimik und er zieht mich fest an sich.
»Pass bitte auf dich auf«, flüstert er in meinen Nacken. »Versprich es mir!«
»Das mache ich, versprochen.« Meine Stimme zittert.
»In meiner Welt kannst du weder krank werden noch sterben. Aber ich weiß nicht, ob das nach deiner Wahl auch für den Winter gilt.« Jesien sieht mich nervös lächelnd an. »Tritt Nevis für mich in den Hintern.« Damit lässt er mich los und ich erwidere sein Lächeln zaghaft.
»Jetzt aber flott, Mädchen!«, sagt Jesien und schiebt mich zu dem Loch. Ich schlüpfe mit dem Oberkörper hindurch und lasse mich auf der anderen Seite in den klirrend kalten Schnee fallen. Mit Mühe winde ich meinen Unterkörper durch die Öffnung und schnappe mir dann meinen Rucksack. Der Wind pfeift heftig und ich ziehe mir schnell meinen Schal über die Nase, so dass nur noch meine Augen unbedeckt sind. Jesien winkt mir zu und verschwindet augenblicklich. Ich möchte weinen, aber dafür bleibt mir keine Zeit. Entschlossen drehe ich mich herum und sehe in das weiße Nichts vor mir. Ich zittere am ganzen Körper und entscheide mich schnell loszulaufen, um vielleicht so die Kälte aus meinen Knochen zu vertreiben.
Müde und erschöpft arbeite ich mich einige Zeit von einem Baum zum anderen vor. Ich versuche mir die Stämme als Fixpunkte zu nehmen, aber wegen des heftigen Schneesturms um mich herum kann ich nicht genau sagen, ob ich nicht doch im Kreis gehe. Ich weiß nur eins: Aufgeben kann ich nicht. Weder möchte ich hier erfrieren noch kann ich die Chance verstreichen lassen, Nevis wenigstens einmal in den Arm zu nehmen, bevor Gaia uns wieder trennt. Also taste ich mich weiter blind durch den Wald, denn die peitschende Kälte um mich herum verhindert, dass ich meine Augen länger als wenige Sekunde offenhalten kann. Meine Beine versinken bis zu den Waden im Schnee, was das Vorankommen sehr erschwert. Die Kälte hat bereits einen Weg durch meine Stiefel gefunden und ich beginne einen Zeh nach dem anderen nicht mehr zu spüren. Erschöpft lehne ich mich gegen einen Baum und versuche mein Gesicht so gut es geht vom Sturm wegzudrehen, was sich als fast unmöglich herausstellt. Trotz des schwachen Tageslichts ist es nicht wirklich heller geworden. Ich schließe meine Augen und ziehe meinen Schal über das ganze Gesicht. Mein Atem wärmt meine kalten Wangen ein wenig und ich lausche einen Moment lang dem pfeifenden Wind, der gnadenlos an meiner Kleidung zerrt. Mit letzter Kraft ziehe ich meinen Rucksack aus und hoffe inständig, dass nicht alles an Essen und Trinken bereits gefroren ist. Zu meinem Glück hat Jesien mitgedacht und etwas heißen Tee in eine Thermoskanne gefüllt. Ich ziehe meinen Schal herunter und nehme einen Schluck. Er ist nicht mal mehr lauwarm, aber zumindest noch flüssig. Schnell drehe ich ihn wieder zu und nehme einen Apfel heraus. Er ist eiskalt und ich versuche ihn an meinem Mund ein wenig zu wärmen, bevor ich hineinbeiße. Meine Zähne schmerzen von der Kälte, aber ich zwinge mich zu kauen und noch drei weitere Bisse zu mir zu nehmen. Danach nehme ich noch einen Schluck Tee und verstaue alles wieder in meinem Rucksack, den ich fest an meinen Bauch presse. Meinen Schal wieder vor dem Gesicht, schließe ich einen Moment lang die Augen.
Als ich sie wieder öffne, fühle ich mich wie erstarrt. Meine Arme und Beine ändern ihre Position nur widerwillig und es dauert lange, bis ich es auf die Beine schaffe. Mir ist kalt, jeder Zentimeter meines Körpers schmerzt und ich beginne mich zu fragen, warum ich mir das antue. Lange kann ich nicht geschlafen haben, denn ein kurzer Blick über meinen Schal verrät mir, dass die Sonne noch nicht mal ganz oben am Himmel steht. Eins weiß ich jetzt jedoch: Still verharren könnte mein Tod sein. Deswegen reiße ich mich zusammen und gehe weiter, die Zähne vor Schmerzen fest zusammengebissen. Ich schließe meine Augen wieder und versuche mir Nevis‘ Gesicht auszumalen,
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