Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
und die schimmernde Wand heran. Vorsichtig deutet er auf eine Stelle, an der das Funkeln ein anderes Muster hat. Es wirkt durchbrochen und irgendwie dünn. Ich trete näher und plötzlich wird mir etwas klar.
»Dort hat meine Hand immer gelegen«, sage ich und Jesiens Blick schießt förmlich zu mir herüber.
»Du bist eine Störung«, grübelt er laut. »Diese Welt ist nicht für Menschen gemacht. Dadurch dass du diese Barriere berührst, machst du sie kaputt.«
Ich starre den Herbst an, der einen Finger auf seine Lippen legt und mir mit der anderen Hand bedeutet ruhig zu bleiben.
»Hör zu«, flüstert er. »Wir stehen hier normal nicht unter Mutters Beobachtung, aber ich weiß nicht wie regelmäßig sie diesen Grenzzauber überprüft.«
»Du meinst, ich könnte die Wand zerstören, in dem ich sie berühre?«
»Wenn du es oft und lange genug machst, ja.« Jesien sieht mir tief in die Augen und scheint herausfinden zu wollen, ob ich so mutig bin.
»Ja«, antworte ich auf die unausgesprochene Frage. »Ich probiere es.«
»Aber, Maya«, lenkt er ein, »selbst wenn du es schaffen solltest, eine Öffnung entstehen zu lassen, durch die du hindurchpasst, so bist du dann in Nevis‘ Welt mutterseelenallein.« Jesien sieht in den Schneesturm. »Du könntest sterben, bevor du bei ihm bist.«
»Wird er meine Anwesenheit nicht spüren?«
»Nein, du bist kein Teil unserer Welten.«
Ich sehe hinüber.
Ich muss es tun … oder ich würde es ewig bereuen.
Jesien bringt mich morgens zur Grenze und holt mich abends ab. So läuft das Tag ein und Tag aus. Wochen, Monate … ich weiß es schon nicht mehr. Gefühlt könnte ich sogar schon Jahre hier sein.
Zwischendurch bringt Jesien mir Essen und Trinken. Wir sprechen nicht offen darüber, was wir vorhaben. Niemals. Sollte Gaia auftauchen, weil sie die Störung spürt, habe ich nur wegen meiner falschen Entscheidung getrauert. Irgendwie ist das auch nicht gelogen. Meine Gedanken drehen sich nur noch darum, Nevis wiedersehen zu können und die Dinge zu tun, die ich in meiner Zeit im Winter nicht habe genießen können. Seinen Duft zu inhalieren, seiner Stimme zu lauschen … ihn zu berühren.
Die Tage, die ich mit der Aufgabe verbringe, kommen mir unendlich vor und es müssen wahrhaftig Monate ins Land gegangen sein. Jede Stunde, jede Minute war zäh und geprägt von unstillbarer Sehnsucht.
Es ist Abend und meine Augen drohen zuzufallen, als der Widerstand meiner Hand plötzlich fort ist und ich das Gleichgewicht verliere und nach vorne kippe. Mein Arm langt durch die Wand auf Nevis’ Seite herüber. Schnell ziehe ich ihn heraus und springe auf. Ich bin wieder hellwach und überlege fieberhaft, ob ich es wagen kann an dem Loch zu zerren. Mein Herz schlägt wie wild und meine Hände zittern vor Aufregung.
»Nein«, sage ich zu mir selbst. »Noch nicht.« Zuerst brauche ich warme Kleidung und etwas zu essen und zu trinken, bevor ich das Loch öffnen und hindurchgehen kann. Aber was ist, wenn Gaia die Störung bemerkt bevor Jesien mich abholt und ich meine Sachen zusammenpacken kann?
»Verdammt, wir sollten uns beeilen«, sagt die ruhige Stimme des Herbstes neben mir. Ich danke dem Schicksal, dass es die Barriere zu einer Zeit durchbrochen hat, in der Jesien mich holen kommt.
»Ja«, hauche ich atemlos. Die Aufregung und das viele Sitzen in den letzten Wochen und Monaten hat meine Kondition etwas geschwächt. Jesien packt mich und schon stehen wir in meinem Zimmer. Ich zerre warme Kleidung aus dem Schrank und beginne sofort mich umzuziehen.
»Ich hoffe du bist nicht allzu müde«, sagt Jesien und dreht sich um. Er geht zur Tür und bleibt kurz stehen. »Ich packe dir Essen und Trinken ein.«
»Danke«, sage ich hastig und halte dann inne. Mir wird klar, dass ich nun Jesien verlassen muss und ich fühle mich an meine Abreise im Orden erinnert, wo ich meine beste Freundin Iria zurückgelassen habe. Ich schüttele den Gedanken ab und beginne mir einen Zopf zu flechten.
»Ich habe alles«, sagt Jesien und sieht gehetzt aus. »Bist du so weit?«
»Ja, denke schon«, antworte ich und ziehe mir die Kapuze meines langen Mantels über meine warme Wollmütze. Darunter trage ich eine Strumpfhose, eine gefütterte lange Hose, zwei Pullover und hochgeschnürte Stiefel.
»Komm, mein Mädchen.« Jesien nimmt mich in seine Arme und schon stehen wir wieder an der Grenze.
»Ich hoffe, du findest ihn schnell«, sagt er und mustert besorgt mein Gesicht, bevor er sich daran macht
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