Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
tragen. Wieso möchte ich noch bei ihm bleiben? Dieser ziehende Wunsch in meinem Bauch und in meiner Brust ist vollkommen widersinnig. Nevis behandelt mich nicht gut. Bei Jesien wäre ich viel besser aufgehoben. Seufzend lege ich meinen Kopf auf den Knien ab, als es an der Tür klopft. Da Iria nur mit den Pfoten scharren kann, ziehe ich sofort alarmiert die Decke hoch. Das kann nur Nevis sein.
»Ja?«, krächze ich mit vom Schlaf belegter Stimme. Die Tür öffnet sich leise und Nevis‘ hellblaue Augen sehen mich fragend an. Schon von Weitem kann ich erkennen, dass sie von Kälte frei sind.
»Darf ich reinkommen?«, fragt er flüsternd. Ich nicke und deute auf das Fußende meines Bettes. Nevis ist barfuß und trägt nur eine dunkle Hose und ein weißes T-Shirt. Er setzt sich auf den Platz, den ich ihm angeboten habe und sieht mich an. Die dicke Eisschicht in seinen Augen scheint aufgetaut und der frostige Griff um sein Herz geschmolzen zu sein. So, wie er mich jetzt ansieht, habe ich das Gefühl, bis tief in seine Seele schauen zu können. In mir beginnt alles zu kribbeln.
»Kommst du jetzt, um mich darum zu bitten, zu gehen?«, frage ich vorsichtig.
Er seufzt. »Nein.« Nevis starrt seine Hände an. »Kannst du mir verzeihen?«
Ich lege meinen Kopf schief. »Was soll ich dir verzeihen?« Dass er mich geküsst hat oder dass er einfach aufgehört hat? Verwirrt runzele ich meine Stirn. Nevis erhebt sich und geht zum Fenster. Lange Zeit sieht er in die Dunkelheit und lauscht dem Trommeln des Hagels.
»Ist Hagel nicht eher etwas für deine Brüder?«, frage ich, um die Stille zu brechen. Außerdem habe ich Angst, dass Nevis‘ Augen wieder zufrieren und die Angst sein Herz wieder in ihren Klammergriff nimmt.
»Ich versuche es morgen etwas wärmer zu machen. Für dich. Die Luft weiter oben ist aber noch sehr kalt, deshalb der Hagel.« Er dreht sich mir zu und lächelt einen kleinen Moment. Seine Augen sind noch frei, was für ein Hüpfen in meinem Brustkorb sorgt.
»Wärmer? Wieso?«, frage ich neugierig.
»Winter ist nicht immer gleich Schnee. Ich würde morgen gerne mit dir ein wenig spazieren gehen, ohne dass ich dir gleich Skier unter die Füße schnallen muss.« Er wirkt einen Moment unsicher. »Würde dir das gefallen?«
»Ja, ja«, schießt es aus mir heraus. »Sehr gerne. Ich meine, ja, das würde mir gefallen.«
Nevis sieht mich an. Er starrt nicht, nein, es ist mehr ein Abwägen. Ich erwidere seinen Blick und warte.
»Was ist das nur?«, flüstert er so leise, dass ich es kaum hören kann.
»Was?« Meine Stimme ist mehr ein Krächzen als alles andere. Nevis kommt näher heran und kniet sich neben mich auf das Bett. Sein Gewicht drückt die Matratze leicht herunter, so dass ich fast gegen ihn falle.
»Wieso zieht es mich so sehr zu dir?«
Unsere Blicke sind ineinander verhakt. Da ich keine Antwort weiß, schlucke ich nur den Kloß in meinem Hals herunter und versuche meine zitternden Hände zwischen meinen Beinen zu verstecken.
»Wieso kann ich nicht aufhören an dich zu denken?«
Das Blau in seinen Augen hat die Farbe von einem klaren, sonnigen Winterhimmel und er duftet nach frisch gefallenem Schnee. An mehr kann ich nicht denken, während ich die Züge seines Gesichts studiere. Im Licht des Mondes sieht er viel sanfter aus. Nicht so verbittert und verkrampft.
»Alles in mir schreit danach, dich zu berühren«, flüstert er, mittlerweile so nah, dass sein Atem meine Wangen kitzelt.
»Dann mach es«, höre ich mich sagen und zucke innerlich zusammen. Am Himmel in Nevis‘ Augen entstehen kleine, eisige Wolken.
»Du glaubst nicht, wie gerne ich das tun würde.«
»Aber?«
Sein Gesicht verändert sich. Ich kann nicht genau sagen was es ist, aber als seine Stimme erklingt, zieht sich mein Herz zusammen.
»Du kannst nicht für immer bei mir bleiben.«
»Aber ich bin jetzt hier«, erinnere ich ihn sanft. Die eisigen Wolken in seinen Augen schmelzen. Das Tauwasser fließt direkt in seine Lider und er weicht vor mir zurück, dreht seinen Kopf erneut zum Fenster.
Wir schweigen für lange Zeit und es dämmert bereits, als mir klar wird, dass ich eingeschlafen sein muss. Ich hebe meinen Kopf und stelle enttäuscht fest, dass Nevis nicht mehr da ist. Wie konnte ich nur einschlafen? Ich reibe meine Augen und drehe mich auf den Rücken, doch irgendetwas stimmt nicht. Von meiner linken Seite geht eine fremde Wärme aus. Ich blinzele und sehe hinüber. Da liegt Nevis und schläft. Selbst in diesem
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