Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
fremden Erinnerungen bringen mich um, Hakon! Ich würde alles geben, wenn du sie wieder wegnehmen könntest.« Silvetta hatte auf einmal Tränen in den Augen. »Ich will mein altes Leben wiederhaben! Lennart hat dies alles besser als ich ertragen! Weil er ohnehin ein sehr düsteres Bild dieser Welt hat. Er hat als Polizist so viel gesehen und so viel erlebt, es wundert einen, dass er bei all dem ein Mensch geblieben ist. Aber ich zerbreche daran.«
»Es tut mir leid«, sagte Hakon leise.
Doch Silvetta wandte sich wortlos ab und ließ ihn mit seinem schlechten Gewissen allein.
Eine Stunde später erschien Lennart einigermaßen gut gelaunt und setzte sich zu Silvetta, die zusammen mit Hakonund den Kindern eine Bank im Schatten des Bahnsteig daches in Beschlag genommen hatte.
»Ich habe den Wagen losschlagen können«, sagte er. »Zwar nicht für den Preis, den ich erhofft habe, aber es hat sich dennoch gelohnt.«
»Gut«, sagte Silvetta. Es war das erste Wort, das sie seit der vergangenen Nacht zu ihm gesprochen hatte. Lennart lächelte und ergriff ihre Hand. Sie zog sie nicht fort.
»Ich habe die Zugkarten bereits gekauft. Lasst uns um der Kinder willen so tun, als machten wir einen Ausflug, ja? Wir werden lange unterwegs sein, anderthalb Tage. Die werden anstrengend genug sein«
»Und was können wir am Ende dieser Reise in Morvangar erwarten?«
»Antworten«, sagte Hagen Lennart zuversichtlich. »Ich hoffe, wir finden Antworten.« Er schaute zu Hakon, doch der konnte seine Begeisterung nicht teilen. Sie waren immer noch auf der Flucht, auch wenn Lennart es wie eine Urlaubsreise aussehen lassen wollte. Ein Unbehagen erfasste Hakon wie eine frostige Brise. Für einen kurzen Moment nahmen die Ereignisse, die in der Zukunft lagen, eine beängstigende Form an. Er ahnte, nein er spürte , dass nicht alle diese Flucht überleben würden.
***
Wenn es jemanden gab, der sich in Lorick auskannte, dann war es einer wie Henriksson, der hier geboren und aufgewachsen war und all die Jahre mit dem Vehikel, in dem siesaßen, Gemüse ausgefahren hatte. Obwohl jede Straßenkreuzung kontrolliert wurde, fand er über Umwege einen Schleichweg aus der Stadt heraus. Tess und York saßen auf der Ladefläche, eingezwängt zwischen Briketts und Wasserkanistern.
Der Lastwagen, den sie fuhren, war das altersschwache Modell eines Cyclons, der seinem Namen überhaupt keine Ehre machte. Alle dreißig Kilometer mussten sie anhalten und Kohlen nachlegen, damit die Dampfmaschine genug Druck hatte. Der Wagen fuhr ohnehin nicht sonderlich schnell. Er war gebaut worden, um schwere Güter zu transportieren, und nicht, um Rennen zu gewinnen. Als sie schließlich Drachaker erreichten, parkte Henriksson den Laster neben dem kleinen Bahnhof.
»Endstation«, rief er und stieg aus. »Weiter werden wir mit dem Ding nicht fahren.« Er öffnete ein Ventil und der Dampf entwich mit einem lauten Zischen. Einen kurzen Moment hielt sich die Wolke in der kühlen Morgenluft, dann löste sie sich auf.
Tess schlug die Plane beiseite, mit der sie sich vor der nächtlichen Kälte zu schützen versucht hatte. York sprang mit einem Satz von der Ladefläche und vertrat sich die Beine. Ein Vogel erhob sich zwitschernd in den Himmel und flog heftig mit den Flügeln schlagend davon. Der Sonnenaufgang ließ die Berge im Norden erglühen. In einer Stunde würde es taghell sein.
Der Bahnhof lag verlassen im morgendlichen Dunst. Zwei Schienenstränge zogen sich parallel zu einer staubigen Landstraße in gerader Linie über eine hügelige Wiesenlandschaft.
Wenn man Richtung Süden ging, würde man in zwei oder drei Meilen nach Norgeby gelangen. Im Norden gab es nichts, außer den hohen Gipfeln der Vaftruden. Und je weiter man nach Osten ging, desto flacher und eintöniger würde die Landschaft werden.
Solrun lud zusammen mit York und Tess das Gepäck vom Laster, während Henriksson den Fahrplan studierte. Er zog eine Uhr aus seiner Westentasche. »Der nächste Zug Richtung Norden geht in einer halben Stunde.« Ein Blick auf die Öffnungszeiten des Kassenhäuschens sagte ihm, dass sie die Karten im Zug lösen mussten. Henriksson setzte sich zu Eliasson auf eine Bank, streckte die Beine aus und gähnte.
Tess stellte die Rucksäcke ab und drückte den Rücken durch. Sie liebte diese frühe Morgenstunde, die so ruhig und friedlich war, und musste an ihren ersten Morgen in Freiheit denken, den sie am Ufer der Midnar verbracht hatte, mit einer Flasche Milch und einem
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