Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
ofenwarmen Brot als Frühstück.
Solrun hatte ihr einen Rucksack gegeben, den Tess mit allem gefüllt hatte, von dem sie glaubte, es auf dieser Reise gebrauchen zu können. Neben einem zweiten Paar Hosen waren das ein Ersatzhemd und Unterwäsche zum Wechseln. Sie hatte auch ein Stück Seife bekommen, das nach Veilchen duftete. Tess hatte sich vorgenommen, bei nächster Gelegenheit nicht nur sich, sondern auch die neuen Kleider gründlich zu waschen. Doch im Moment suchte sie nichts zum Anziehen, sie hatte Hunger. Jeder von ihnen hatte zwei Äpfel, ein Stück Brot und etwas Käse mitbekommen, Tess und York sogar noch mehr als die Erwachsenen.
Tess setzte sich neben York auf die Bahnsteigkante und bot ihm einen ihrer Äpfel an. Er dankte ihr lächelnd und biss nachdenklich hinein.
Solrun stand etwas abseits, die Hände in den Jackentaschen vergraben, und kickte einen kleinen Stein auf die Gleise.
»Sie ist ein seltsamer Vogel«, sagte York. »Ich werde aus ihr nicht schlau.«
»Ich denke, man wird so, wenn man sich sein ganzes Leben lang vor der Polizei verstecken musste«, sagte Tess mit vollem Mund. »Außerdem ist sie verliebt.«
York hielt mit dem Kauen inne. »In wen? Henriksson?«
Tess nickte. »Sieh sie dir an. Immer wieder schaut sie zu ihm hinüber. Die harte Nummer ist nur eine Masche von ihr. Eigentlich ist sie zu ängstlich, um es ihm zu sagen. Und das, obwohl sie ihr Leben für seins geben würde.«
»Hast du jetzt eine neue Gabe entwickelt?«, fragte York überrascht.
Tess lachte. »Nein. Du musst einfach nur genau hinschauen.«
York drehte den Kopf zur Seite und beobachtete Solrun aus den Augenwinkeln. Er wusste, wenn sie ihn dabei bemerkte, gab es Ärger. »Ich frage mich, welches Talent dieser Hakon hat«, murmelte er.
» Ich frage mich, ob es außer ihm noch mehr Menschen wie uns gibt«, entgegnete Tess.
York warf das Kernhaus über die Schienen hinweg in einen Busch. »Natürlich. Unsere Eltern.«
Tess stutzte. »Richtig«, sagte sie. »Darüber habe ich nochgar nicht nachgedacht. Aber warum sind wir nicht bei ihnen aufgewachsen? Warum haben sie uns weggegeben?«
»Vielleicht war die Gefahr zu groß. Immerhin gelten magisch Begabte als das Böse schlechthin. Und es muss sie über Jahrtausende gegeben haben, vorausgesetzt natürlich, die Legenden stimmen.«
»Du meinst, sie haben eine Art Geheimbund gebildet?«, fragte Tess aufgeregt.
»Ich glaube, die Armee der Morgenröte hat das Prinzip unabhängig handelnder Zellen nicht erfunden«, gab York zu bedenken. »Wenn es die magisch Begabten gegeben hat, dann haben Sie auch bestimmt miteinander in Verbindung gestanden. Wie Sie das gemacht haben, weiß ich nicht. Vielleicht hat es ja Boten mit einem besonderen Talent gegeben. Telepathen wie dieser Swann zum Beispiel. Ich kann mir vorstellen, dass es Schlüsselbegabungen wie die seine oder die von Präsident Begarell gibt. Das sind dann Talente, von denen alle profitieren.«
Tess kam Nora in den Sinn. Konnte es sein, dass die blinde alte Frau genau diese Aufgabe erfüllte? »Ich frage mich nur, wieso wir alle unterschiedliche Fähigkeiten haben.«
»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Ich glaube, wir haben uns unsere Gabe in gewisser Weise ausgesucht. Schau mich an, ich wurde zeit meines Lebens eingesperrt. Ich wollte immer raus, das Leben und vor allen Dingen andere Menschen kennenlernen. Also konnte ich irgendwann springen, ohne große Anstrengungen relativ weite Entfernungen überwinden.«
Tess runzelte nachdenklich die Stirn. »Mir ist es andersergangen. Bei uns im Waisenhaus zählte man etwas, wenn man stark war und sich durchsetzen konnte.«
York machte eine Geste, als erklärte das alles. »Ich könnte schwören, dass dieser Hakon etwas kann, was ihn in seinem Zirkus zu einem einzigartigen Menschen macht.«
»Vielleicht kann er ja richtig zaubern«, schlug Tess vor.
»Ja, vielleicht«, sagte York und kratzte nachdenklich mit einem Stöckchen im Sand. »Glaubst du auch, dass wir eine Gefahr für die Menschheit sind?«
Tess holte tief Luft und blinzelte in die tief stehende Morgensonne. »Die Frage habe ich mir auch schon gestellt. Ich denke schon, ja. Für uns gelten keine Gesetze. Nimm einmal dein Talent. Du könntest jede Bank ausrauben, ohne dass jemand auf die Idee käme, dich zu verdächtigen.«
»Vorausgesetzt natürlich, niemand wüsste von meiner Gabe.«
»Und wenn? Man müsste dir die Tat erst einmal nachweisen.« Sie schaute York an. »Du wärst auch
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