Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
hören. Dass dieser Junge aber wie ein lebenserfahrener Mann sprach, machte ihn ganz konfus.
Mich auch, das können Sie mir glauben. Manchmal frage ich mich, wo der alte Hakon aufhört und die anderen Menschen in mir anfangen. Des wegen weiß ich nur zu genau, wie sich Ihre Frau fühlt. Sie ist nicht mehr sie selbst, und das kann man getrost wörtlich nehmen.
Nach einer Stunde hatten sie Tallwick erreicht. Lennart brauchte ein wenig Zeit, bis er einen Platz fand, an dem er den »Kotzweg« abstellen konnte. Sie luden das Gepäck aus,verstauten die verbliebenen Holzpellets im Kofferraum und schlossen den Wagen ab.
»Und jetzt?«, fragte Lennart.
»Vielleicht sollten Sie ihn verkaufen«, schlug Hakon vor. »Wir werden ihn die nächste Zeit nicht brauchen.« Lennart überlegte. Der Wagen war auf das Innenministerium zugelassen, das würde die Sache nicht einfach machen. Der Ort war relativ groß, sonst hätte man ihm nicht solch einen Bahnhof gebaut. Auch hier pusteten einige Fabriken ihren Rauch in die Luft. Und wo es Fabriken gab, gab es Geld, das ausgegeben werden wollte.
»Wartet einen Moment auf mich, ich bin gleich wieder da!«, sagte Lennart und eilte davon.
»Wo will er hin?«, fragte Silvetta.
»Er sucht ein Adressbuch«, sagte Hakon und lächelte. Dass sie nach ihrem Mann fragte, war ein gutes Zeichen. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung.
»Wir haben Glück«, rief Lennart, als er nach fünf Minuten zurückkehrte. »Hier im Ort gibt es zwei Gebrauchtwagenhändler, bei denen ich mein Glück versuchen werde. Ihr geht schon mal zum Bahnhof, ich treffe euch dann dort.«
»Soll ich mitkommen?«, fragte Hakon.
»Nein, mir ist es lieber, wenn du bei meiner Familie bleibst.«
»Genau«, rief Melina. »Dann kannst du uns nämlich noch ein paar Zaubertricks zeigen.« Sie ergriff seine rechte Hand, was Maura als Aufforderung verstand, die linke zu nehmen. Silvetta kümmerte sich um die Koffer.
Tallwicks Bahnhofsgebäude war erstaunlich groß, obwohles nur zwei Gleise gab, eines für jede Fahrtrichtung. Die meisten der Fahrgäste, die sich auf den Bahnsteigen drängten, wollten nach Süden. Nur wenige waren in den Norden unterwegs.
Silvetta hatte den Mädchen einige Kronen gegeben, damit sie sich an einem der zahlreichen Stände etwas Süßes kaufen konnten. Sie schaute ihnen nach und widmete sich dann der blauen Tafel, auf der die Abfahrtszeiten der Züge aufgelistet waren. Als Hakon sich neben sie stellte, atmete sie aus und ließ die Schultern hängen.
»Ich lese Ihre Gedanken nicht«, beeilte er sich zu sagen. »Und ich weiß, dass ich Ihnen unheimlich bin, weil mein Leben so ganz anderes als das Ihre ist.«
Silvetta drehte sich um und starrte ihn nur an. In ihrem Blick lagen Enttäuschung, Angst, Ratlosigkeit und Wut.
»Noch vor vierundzwanzig Stunden war ich eine ganz normale Frau mit ganz normalen Kindern und einem ganz normalen Mann. Mein Leben war nicht sonderlich spannend, manchmal sogar eine Enttäuschung und immer ein Kampf. Aber ich liebte es, weil ich es nicht anders kannte. Dann kommst du, ein fünfzehnjähriger Junge mit der Seele eines alten Mannes. Und alles verändert sich. Schau mich an: Für meine Kinder versuche ich immer noch die Mutter zu sein, die sie kennen, aber das fällt mir verdammt schwer. Ich bin nicht mehr ich. Ich bin du, bin Lennart, ich habe Menschen sterben sehen, ich ...« Sie machte eine hilflose Geste. »Mein Leben ist nicht mehr mein Leben!«
»Ich könnte sagen, dass sich das geben wird, aber das wäre eine Lüge«, sagte Hakon. »Als ich meine Gabe zum erstenMal einsetzte, ging es mir genauso. Ich hatte das Gefühl, mich zu verlieren. Ich hatte Angst. Es war, als betrachtete ich das Leben gleichzeitig aus mehreren Perspektiven, und ich wusste nicht mehr, welche die Hakon Tarkovskis war. Es hat lange gedauert, bis ich sie wiederfand.«
»Es ist obszön«, sagte Silvetta. »Die Gedanken anderer Menschen zu lesen ist ein größeres Verbrechen, als in deren Wohnung einzubrechen und ihre Sachen zu durchwühlen.«
Hakon sah sie traurig an. »Deswegen habe ich immer meine Gedanken, mein Leben zum Tausch angeboten. Ich nehme etwas, ich gebe etwas. Ich finde das nur fair.«
Sie funkelte ihn wütend an. »Fair? An dieser ganzen Sache ist nichts fair! Darf ich dir einen Rat geben? Bevor du mit den Gedanken anderer Menschen herumspielst, solltest du deine Fähigkeiten trainieren. Du musst nicht alles wissen. Und, um Gottes willen, du musst nicht alles geben! Diese
Weitere Kostenlose Bücher