Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
doch niemand wagte es, sie anzufassen. Dafür sorgte Wooster, der Tess im Auge behielt und darauf achtete, dass ihr Tablett immer voll war.
Es gab aber auch Gäste, die sie anständig behandelten und ihr die eine oder andere Krone Trinkgeld zusteckten. Für Tess, die noch nie in ihrem Leben mehr als ein paar Heller besessen hatte, waren das ungeheure Reichtümer. Schon nach einigen Stunden hatte sie ein erkleckliches Sümmchen beisammen, das sie in den Taschen ihres Kleides verschwinden ließ.
Tess fragte sich, wie der alte Wooster das sonst alleine geschafft hatte. Ihr taten jetzt schon alle Knochen im Leib weh, von den geschundenen Füßen ganz zu schweigen. Aber eine Pause kam nicht infrage. Während der Wirt einen Humpen nach dem anderen zapfte, servierte Tess im Laufschritt.
»He!«, rief eine Stimme.
Tess schaute sich um. In einer Nische saß ein hünenhafter Kerl, dessen Glatze so tätowiert war, dass der Kopf von hintenwie ein Totenschädel aussah. Unter dem maßgeschneiderten grauen Anzug spannten sich gewaltige Muskeln. Obwohl die Kneipe so voll war, dass sich die Gäste auf den Füßen standen, saß der Mann alleine am Tisch.
»Ja?«, fragte Tess.
»Gibt’s hier auch etwas zu essen?«
»Wir haben Eintopf.«
»Wie ist der?«
»Gut, ich habe ihn heute selbst gegessen.«
»Dann bring mir einen Teller«, sagte der Mann. »Und einen Krug Bier mit dazu!«
Tess eilte in die Küche, wo der Topf auf dem Herd stand, und füllte eine Schüssel. Auf dem Rückweg holte sie das Bier ab.
»Du«, sagte Wooster und packte sie am Arm. »Warte mal.«
Tess schaute den alten Mann erwartungsvoll an. Sie atmete heftig und das Haar hing ihr strähnig ins schweißnasse Gesicht.
»Halt dich von dem Kerl fern. Sprich nicht mit ihm. Sag Ja oder Nein, wenn er dich etwas fragt, mehr aber nicht.«
»Wer ist das?«
Wooster füllte ein weiteres Glas und stellte es auf das Tablett. »Er heißt Bruno Kerkoff und treibt für den Boxverein von Süderborg Schutzgelder ein.«
»Schutzgelder? Für was ?«
Wooster seufzte. »Frag nicht so dumm, mach dich lieber wieder an die Arbeit.« Dann machte er eine Handbewegung, die wohl andeuten sollte, dass das Gespräch zuende war.
Tess schnappte sich das Tablett und stürzte sich wieder ins Getümmel.
»Hier ist Ihr Essen«, sagte sie zu Kerkoff und wollte gerade den Teller vor ihm auf den Tisch stellen, als sie von hinten einen Stoß erhielt. Der Eintopf rutschte vom Tablett und landete dem Geldeintreiber direkt auf dem Schoß. Mit einem lauten Schrei sprang der Mann auf und schüttelte die Hose aus. Mitten im Schritt hatte er einen dunklen Fleck.
Plötzlich war in der Eisernen Jungfrau alles still. Jeder schaute zu ihnen herüber. Tess hielt mit weit aufgerissenen Augen das Tablett fest. Mit hochrotem Kopf funkelte sie der tätowierte Riese an. Hilfe suchend schaute sie sich nach Wooster um, doch der war verschwunden.
»Entschuldigen Sie«, stammelte Tess. »Das ist nicht mit Absicht geschehen.«
Brunos Kiefer mahlten, als er sie bei der Schulter packte. Sie spürte die Kraft in seinen Händen, aber anstatt sie zu schütteln oder Schlimmeres mit ihr anzustellen, schob er sie erstaunlich sanft beiseite. Tess drehte sich um.
Hinter ihr stand ein schmächtiger Bursche, der so jung war, dass er noch Pickel im Gesicht hatte. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er schluckte.
»Tut mir leid, das habe ich nicht gewollt«, sagte er hastig. »Ich habe das Mädchen nicht gesehen, wirklich ... Oh mein Gott! Bitte, Herr Kerkoff! Bringen Sie mich nicht um!«
Tess sah, wie Kerkoff versuchte seine Wut zu bezähmen, und das sah richtig nach Arbeit auf. Schließlich nickte er.
»Oh danke«, winselte der Junge, der so aussah, als würde er am liebsten vor Kerkoff auf den Knien herumrutschen.
»Danke vielmals. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, sagen Sie es!«
»Verschwinde von hier«, flüsterte Kerkoff.
»Ja«, sagte der Bursche atemlos und schaute sich um, auf welchem Tisch er sein halb leeres Glas abstellen konnte. Als er einen Platz gefunden hatte, rannte er so schnell wie möglich hinaus.
Langsam entspannten sich die Gäste und die kneipenübliche Geräuschkulisse war wieder zu hören.
»Ich hole Ihnen ein Handtuch«, sagte Tess. Sie wollte davoneilen, aber der Mann hielt sie fest.
»Wie heißt du?«, fragte er freundlich.
»Tess.«
»Wie lange arbeitest du schon für den alten Wooster?« »Seit heute Nachmittag.«
Er musterte sie von oben bis unten und lächelte dann.
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