Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
Moment spielte Tess mit dem Gedanken, sie mitzunehmen, aber wem sollte sie sie schenken? Mit einem bedauernden Seufzen legte sie sie wieder zurück. Vielleicht würde sie später noch einmal wiederkommen und sie holen.
Zwei Gassen weiter fand sie etwas, was sie wirklich gebrauchen konnte. Hinter einem Haus stapelten sich Kisten mit welkem Salat, altbackenem Brot und anderen Nahrungsmitteln, die zwar verlockend rochen, denen sie aber nicht traute, da sie nicht wusste, wie lange sie schon herumstanden. Das hier musste die Rückseite eines Restaurants oder einer Imbissbude sein. Aus einem der halb geöffneten Fenster hörte sie das Klappern von Töpfen.
Hastig riss sie einen Laib Brot auseinander und stopfte sich die Brocken in den Mund. Mit einem seligen Stöhnenschloss sie die Augen und kaute genüsslich darauf herum. Es war nicht ganz frisch, aber tausendmal besser als die steinharten Kanten, die es immer im Heim gegeben hatte. Sie schmeckte unbekannte würzige Kleinigkeiten heraus, die ihre ausgehungerten Geschmacksnerven in einen Rausch versetzten. Als sie weiter in der Kiste stöberte, fand sie noch Karotten und Äpfel, die zwar nicht mehr perfekt aussahen, aber im Vergleich zu dem Essen im Waisenhaus die reinsten Leckerbissen darstellten. Unglaublich! All die Jahre hatten sie im Waisenhaus fast gehungert, und hier warf man diese Köstlichkeiten fort!
Am liebsten hätte sie auch hier alles mitgenommen, aber sie hatte keine Tasche, in die sie die Vorräte stopfen konnte. Aber wenigstens war ihr erster Hunger gestillt und sie konnte wieder einen klaren Gedanken fassen. Wenn sie in dieser Stadt überleben wollte, musste sie planvoll vorgehen.
Je gründlicher sie ihre Situation überdachte, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass die Innenstadt von Lorick der denkbar ungünstigste Ort für ein dreizehnjähriges Mädchen auf der Flucht war. Zurück in den Osten der Stadt wollte sie jedoch auch nicht, das Waisenhaus war einfach zu nah.
Unschlüssig setzte sie sich auf den Boden und lehnte sich gegen die Wand. Irgendwie schien es, als wäre sie in einer Sackgasse gelandet. Zunächst einmal brauchte sie eine Bleibe, wo sie Schutz fand und schlafen konnte. In diesem Stadtbezirk Loricks war nicht daran zu denken. Zu viele Menschen lebten und arbeiteten hier, die Tess mit Sicherheit zum Teufel jagten, wenn sie sie entdeckten. Abgesehen davon hatte sie auch keine Lust, inmitten der Abfälle ihr Lager zu errichten.Auf der anderen Seite war ein weiteres Erkunden der Stadt bei Tag einfach zu gefährlich. Inmitten all der gut gekleideten Menschen, denen sie auf der Straße begegnet war, kam sie sich wie eine einbeinige Tänzerin auf einem Ball vor.
Tess hatte die Wahl. Entweder blieb sie hier und wartete auf die Abenddämmerung oder aber sie ging das Risiko ein und suchte am helllichten Tag nach einem Versteck.
»Ach, verdammt«, stöhnte sie. Im Waisenhaus hatte sie nie irgendwelche Entscheidungen treffen müssen, andere hatten das stets für sie übernommen. Und erst jetzt dämmerte ihr die Erkenntnis, dass mit der neu gewonnenen Freiheit auch eine haltlose Einsamkeit gekommen war. Nun musste Tess selber sehen, wie sie sich durchs Leben schlug. Niemand hatte ihr das beigebracht und in ihr keimte der Verdacht auf, dass die Erfahrungen, die sie nun machte, sehr schmerzhaft sein würden. An wen konnte sie sich wenden, wem konnte sie vertrauen?
Sie wischte sich trotzig die Tränen aus den Augen und stand auf. Es hatte keinen Zweck. Sie musste los, Stillstand war der Tod. Tess überlegte kurz, ob sie sich noch ein Brot mitnehmen sollte, ließ es dann aber. Sie vertraute darauf, dass sie überall etwas zu essen finden würde.
Sie trat aus der Seitengasse hinaus auf die Geschäftsstraße und versuchte inmitten all der Passanten den Eindruck zu erwecken, als habe sie wie jeder andere das Recht, sich hier aufzuhalten – was ihr jedoch schwerfiel. Die Blicke der Menschen schienen Löcher in ihren Rücken zu brennen.
Trotzdem marschierte sie tapfer weiter und versuchte, einGefühl für die Aufteilung der Stadt zu bekommen, was dank der rechtwinkligen Aufteilung der Straßen und die Stadtpläne, die sich an den Haltestellen der Dampfbusse be fanden, relativ leicht war. Um zum Fluss zu gelangen, musste sie in eine der Straßen links abbiegen und so weit geradeaus laufen, bis sie zur Midnar kam.
Süderborg am anderen Ufer des Flusses war die dunkle Seite Loricks. Hier lebten die Dockarbeiter und Schauerleute, die im nahe
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