Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
»Gut«, sagte er, als hätte sie gerade eine Prüfung bestanden. Er ließ sie los. »Dann mach weiter so.«
Tess nickte, lächelte nervös zurück und hob das Tablett mit den Bieren, die mittlerweile wahrscheinlich schal waren, wieder hoch.
Aber niemand beschwerte sich, als sie die Gläser servierte. Im Gegenteil: Keiner machte mehr eine anzügliche Bemerkung oder versuchte, ihr in den Hintern zu kneifen; alle behandelten sie jetzt mit Respekt. Tess war klar, dass das nichts mit ihr zu tun hatte, sondern mit dem Mann, diesem Kerkoff. Er war freundlich zu ihr gewesen, also waren es die anderen besser auch. Sie räumte die Gläser ab und eilte wieder zum Tresen. Wooster stand wieder da und zapfte Bier.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht mit ihm reden.« »Es war nicht meine Schuld«, sagte Tess. »Einer der Gäste hat mich gestoßen.«
Wooster verzog das Gesicht. »Worüber habt ihr gesprochen?«
»Er wollte wissen, wie lange ich hier schon arbeite. Ich habe ihm gesagt, heute sei mein erster Tag.« Tess tauchte die Gläser ins Spülwasser. »War das ein Fehler?«
»Das wird sich noch herausstellen. Du solltest lieber heute Nacht deine Kammer absperren.«
Tess wurde bleich. »Wollen Sie etwa sagen ...«
»Gar nichts will ich sagen«, schnitt er ihr barsch das Wort ab. »Los, geh wieder an die Arbeit.«
Kerkoff saß den Rest des Abends in seiner Nische und hielt Hof. Im Halbstundentakt tauchten Männer auf, setzten sich zu ihm und redeten mit ihm. Manche trugen dieselbe Tätowierung wie er, andere schoben dem Mann Kuverts über den Tisch, deren Inhalt sofort in einer kleinen Kladde verbucht wurde. Wooster war es anzusehen, dass er es gar nicht gut fand, wenn man in seiner Kneipe Geschäfte dieser Art tätigte. Tess hatte jedoch den Eindruck, dass es noch einen anderen Grund für Woosters schlechte Laune gab. Kerkoff zeigte damit allen, wer hier Herr im Hause war.
Kurz vor Mitternacht machten sich die letzten Gäste auf den Heimweg. Tess konnte Woosters Ärger spüren. Offensichtlich hatte der Geldeintreiber erfolgreich die Kundschaft vertrieben. Mit grimmigem Gesicht begann der Wirt die Stühle auf die Tische zu stellen.
»Los, hinauf mit dir in deine Kammer«, zischte er mit einem Seitenblick auf Kerkoff, der noch immer an seinem Platz saß und scheinbar vollkommen in sich versunken sein Geld zählte.
Tess nickte und eilte mit einem flauen Gefühl in der Magengegend die Treppe hinauf. Der Mann hatte sie den ganzen Abend gemustert, und dass er der letzte Gast war, bedeutete nichts Gutes, das spürte selbst sie. Tess warf die Tür hinter sich zu und wollte abschließen, aber da war kein Schlüssel. Kurzerhand nahm sie den Stuhl und klemmte ihn mit der Lehne unter die Türklinke. Atemlos wartete sie ab, was nun geschehen würde.
Zunächst war alles still. Dann hörte sie, wie Stühle umgeschmissen und Gläser zerbrochen wurden.
»Sie ist nur eine Aushilfe, mehr nicht«, hörte sie Wooster beschwörend rufen.
»Erzähl das jemandem, der dümmer ist als ich«, antwortete Kerkoff. Ein Schmerzensschrei ertönte, der Tess zusammenzucken ließ. »Du weißt genau: Wenn du wieder in das Geschäft mit Mädchen einsteigen willst, musst du erst mit mir sprechen.«
»Sie ist erst dreizehn!«, schrie Wooster.
»Davon will ich mich selber überzeugen«, sagte Kerkoff. Schwere Schritte polterten die Treppe hinauf. Die Klinke wurde heruntergedrückt.
»He, Tess! Mach auf! Ich möchte mich gerne mit dir unterhalten.«
Tess saß auf der Bettkante und starrte die Tür an, als ob sie durch ihre Willenskraft den Mann hätte auf halten können.
»Nun komm schon. Oder soll ich die Tür aufbrechen?«
Ein donnernder Schlag ließ das Holz splittern. Dann folgte ein weiterer Schlag. Mit einem lauten Poltern fiel die Tür zu Boden.
Tess schrie nicht. Auch dann nicht, als Kerkoff sie packte und auf die Beine stellte. »Dreizehn willst du sein?« Er lachte gehässig. »Meine Güte, an dir ist mehr dran als an den meisten Frauen.«
Kerkoff versetzte ihr einen Stoß, um sie auf die Matratze zu werfen, aber Tess blieb stehen. Ihr Körper fühlte sich so kalt an wie gehärteter Stahl und rührte sich nicht. Kerkoff streckte noch einmal die Hand aus, doch da packte ihn Tess am Gelenk. Er lachte rau.
»Oh, bitte. Mach dich nicht lächerlich.«
Kerkoff wollte sich von ihr losreißen, aber Tess hielt ihn wie in einem Schraubstock fest. Jetzt zeigte das Gesicht des Hünen zum ersten Mal einen leisen Ausdruck von Überraschung.
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