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Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay

Titel: Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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Zirkus.«
    »Ja«, antwortete Boleslav und scharrte mit den Füßen unter dem Stuhl. Hakon glaubte seinen Vater eigentlich gut zu kennen, aber so nervös hatte er ihn noch nie erlebt.
    »Hm«, machte der Beamte. »Haben Sie Ihren Ausweis dabei?«
    Boleslav stand auf und zog aus der Tasche ein rundgesessenes Portmonee. »Hier, bitte«, sagte er und reichte dem Mann in den Ärmelschonern ein speckiges, zusammengefaltetes Dokument.
    Der Beamte betrachtete den Ausweis, als hätte sich sein Besitzer daran vergangen. Missbilligend schüttelte er den Kopf. »Der ist vor drei Tagen abgelaufen.«
    Boleslav riss die Augen auf. »Ach wirklich? Das ist mir entgangen.«
    »Ja, offensichtlich.«
    »Ähm ... und nun?«
    »Werden Sie ihn verlängern lassen müssen. Zimmer 421, zwei Stockwerke tiefer.« Boleslav stand hastig auf. »Das werden Sie aber erst morgen machen können. Die Ausweisstelle hat vor fünf Minuten geschlossen.«
    Boleslav blinzelte irritiert. »Wir kommen aus Drachaker. Das ist eine Zugfahrt von anderthalb Stunden.«
    »Und?«, sagte der Beamte und gab ihm den Ausweis zurück.
    »Wissen Sie, wie teuer eine Fahrkarte ist?«
    »Wissen Sie, wie teuer es Sie kommt, wenn Sie ohne gültige Papiere erwischt werden?«, raunzte der Beamte zurück. »Die Dienststelle öffnet morgen um neun Uhr. Seien Sie pünktlich, denn die Warteschlange ist immer sehr lang. Auf Wiedersehen.«
    »Ich bitte Sie! Das würde mich einen ganzen Tag kosten!«, sagte Boleslav flehend.
    Der Beamte lächelte selbstzufrieden. »Na und? Sie haben doch Zeit. Ohne die Auftrittsgenehmigung dürfen Sie ohnehin nicht arbeiten. Und jetzt muss ich Sie bitten zu gehen. Ich habe Feierabend.«
    »Das können Sie nicht tun!«, rief Boleslav aufgebracht.
    »Das kann ich. Und das werde ich. Auf Wiedersehen.«
    Hakon sah, wie seinem Vater das Blut in den Kopf schoss. Boleslav Tarkovski war ein Mann, der nur schwer die Fassung verlor. Doch wenn er einmal wütend war, gab es kein Halten mehr. Irgendetwas musste geschehen, sonst würden sie richtig Ärger bekommen.
    Hakon konzentrierte sich auf den Beamten, der ungerührt seinen Schreibtisch aufräumte. Er versuchte, sich in ihn hineinzuversetzen und sich vorzustellen, wie es war, er zu sein. Plötzlich nahm Hakon wahr, dass die Bewegungen des Mannes fahrig wurden. Immer wieder schaute er sich um, als wäre außer den Tarkovskis noch eine weitere Person im Raum, die er jedoch nicht sehen konnte. Hakon konzentrierte sich weiter. Es kostete ihn einige Kraft, in den Verstand dieses kleingeistigen Mannes einzudringen. Bei der Vorstellung in Vilgrund war es leichter gegangen.
    Aber da hatte er es auch nicht gezielt versucht.
    Es war wie beim Fahrradfahren. Hakon musste ein Gefühl dafür entwickeln, wie sie funktionierte, die Koordination von Gleichgewicht und Bewegung. Er wusste, er durfte sich nicht anstrengen.
    Das erste Bild stieg vor seinem geistigen Auge auf. Erstaunlicherweise war es ein Bier mit einer perfekten Schaumkrone, das Glas kühl beschlagen. Offensichtlich war es das, worauf sich der Mann gerade am meisten freute. Hakon grinste triumphierend. Er hatte es geschafft. Und als er das wusste, nahm er eine andere Perspektive ein, so als betrachtete er das Leben des Mannes aus einer größeren Höhe. Innerhalb einer Sekunde wusste er alles über ihn: seinen Namen, seinen Geburtstag und seine Schuhgröße. Er war seit zwölf Jahren verheiratet, hatte drei Töchter, die er abgöttisch liebte, und eine Frau, die ihm das Leben zur Hölle machte, weil sie unentwegt an ihm herumnörgelte. Er sparte auf sein erstes Automobil und verabscheute seine Kollegen, die sich durch Schmiergelder ihr kärgliches Beamtengehalt aufbesserten. Edvard Kerttuli war ein pflichtschuldiger Beamter durch und durch. Ein wenig langweilig vielleicht, aber loyal seinem Staat gegenüber. Und von seinem Standpunkt aus hatte er natürlich Recht. Hakons Vater brauchte einen neuen Ausweis. Es war Boleslav Tarkovskis Schuld, dass er sich nicht darum gekümmert hatte.
    Hakon schämte sich für das, was er nun tat. Er versuchte, sich nicht nur in Kerttuli hineinzuversetzen, sondern tatsächlich dieser kleine Mann mit den tintenfleckigen Ärmeln zu sein .
    Plötzlich holte der Mann tief Luft, als hätte man ihn mit kaltem Wasser übergossen. Wie eine Marionette öffnete er die unterste Schublade seines Schreibtisches, holte ein blassgrünes Papier hervor und begann sogleich, es gewissenhaft auszufüllen.
    Boleslav, der nicht mehr damit gerechnet

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