Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
normalen Berufen und einem ganz normalen Familienleben.«
Bis diese Bombe in seinem Gemüseladen explodiert war, dachte Tess.
»Was werden wir jetzt tun?«, fragte Tess. Sie roch am Ärmel des Pullovers, den sie inzwischen angezogen hatte, und verzog das Gesicht. Er roch nach Öl und abgestandenem Schweiß. Trotzdem stopfte sie ihn in die Hose, die noch immer zu weit war. Sie fragte sich, ob Henriksson noch irgendwo einen Gürtel hatte, sonst würde sie über kurz oder lang mit ihrem Hintern im Freien stehen.
»Die Polizei sucht nach mir, weil ich als Anführer der Armee der Morgenröte für den Anschlag verantwortlich sein soll. Norwin versucht mich zu liquidieren, und dabei schreckt er noch nicht einmal vor einem Mord aus Staatsräson zurück.«
Tess hatte ein Stück Seil gefunden, das zusammengewickelt auf dem staubigen Fußboden lag. Sie rollte es auf und zog es durch die Gürtelschlaufen der Hose. Der Hanf war so steif, dass der Knoten nicht hielt, den sie zu knüpfen versuchte. Schließlich bemerkte Henriksson das Problem und warf ihr ein Paar Hosenträger zu.
»Was habt ihr eigentlich im Waisenhaus gelernt?«
»Lesen, schreiben, rechnen, das Übliche halt. Im Prozentrechnen bin ich ganz gut. Wir hatten sogar ein paar von diesen neumodischen Typenmaschinen, auf denen habe ich üben dürfen. War die Spende von irgendeinem Fabrikanten, für den wir geschuftet haben. Ich glaube aber nicht, dass er sie uns aus Eigennutz geschenkt hat. Er wollte ausprobieren, ob er seinen Briefverkehr auslagern konnte. Hat übrigens nicht geklappt. Ich war die Einzige, die schnell genug fehlerfreitippen konnte. Helfen Sie mir mal?« Sie drehte sich um, damit Henriksson die Träger an den Knöpfen befestigen konnte, die hinten an der Hose angenäht waren.
»Habt ihr auch etwas über Morland gelernt?« Henriksson reichte ihr die Gummibänder über die Schulter.
»Nun ja, mehr über Präsident Begarell und seine Wohltaten. Nach dem, was in den Büchern steht, muss es vor seiner Amtszeit ziemlich ungerecht hergegangen sein.«
»Das Land war in der Hand eines einzigen großen Bergbauunternehmens namens Morstal. Sie konnten alles bestimmen: die Preise, die Löhne, die Zinsen für Kredite. Morstal war ein Krake. Ich kann mich noch sehr gut an die Zeit erinnern. Als Begarell an die Macht kam, hat er dafür gesorgt, dass Morstal enteignet und verstaatlicht wurde. Damit hatte er viele Arbeiter auf seiner Seite und er wurde wie ein Erlöser gefeiert, denn danach verbesserten sich die Lebensbedingungen – zumindest für eine kurze Zeit. Begarell verwandelte sich von einem Präsidenten, der die Gunst der Massen zu gewinnen suchte, in einen Diktator, der keinerlei Kritik zuließ. Er verbot die Arbeitervereine, die ihm zur Macht verholfen hatten, schränkte die Pressefreiheit ein und versuchte, die Unabhängigkeit der Gerichte aufzuheben. Angeblich mit dem Ziel, die Rückkehr der alten Verhältnisse zu verhindern. Aber das war Unsinn. Morstal war in seinen letzten Jahren ohnehin so schwach wie ein gestrandeter Wal gewesen, der von seinem eigenen Gewicht erdrückt wurde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis alles zusammenbrach. Begarell hat verhindert, dass es zum Schlimmsten kam, indem er die öffentliche Ordnung aufrechterhalten hat. Momentansucht er nach einem Weg, unsere Verfassung zu ändern, die eine dritte Amtszeit nicht erlaubt, aber noch fehlen ihm die Mehrheiten. Deswegen ist die innere Sicherheit für ihn ein großes Thema. Überall sieht er angeblich den Staat bedroht: durch Korruption und organisiertes Verbrechen, durch Untergrundkämpfer, durch immer knapper werdende Rohstoffquellen, was auch immer. Jede Woche gibt es einen neuen Grund, warum ein Gesetz erlassen werden muss, um Morland zu schützen.«
»Muss denn Morland geschützt werden?«
»Ja, vor einem Kerl wie Begarell.« Henriksson schnaubte. »Das Schlimme ist, dass er teilweise Recht hat. Die Boxvereine sind tatsächlich ein Problem. Früher haben sie nur die Straßen kontrolliert, mittlerweile versuchen sich die Dodskollen, Wargebrüder oder wie sie sonst noch heißen einen seriösen Anstrich zu geben und suchen die Nähe zur Politik. Und die knapper werdenden Rohstoffe sind ebenfalls ein beängstigendes Problem. Es ist nicht nur die Kohle, die uns fehlt. Es gibt kein Öl und kein Erdgas. Die Erzvorkommen sind spärlich. Es hat einen Untersuchungsbericht der Geologischen Gesellschaft gegeben, der darauf hinweist, dass es ein Missverhältnis von zu erwartenden und
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