Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
ihm. »Vielleicht. Dann bis morgen.« Swann trat hinaus auf den Hof. »Abfahrt!«, rief er und sprang auf den Beifahrersitz eines Wagens, der neben ihm hielt.
Kaum hatte er Platz genommen, brauste er davon. Eine Minute später war der Spuk zu Ende. Nur der Staub, der in der Luft hing, wies darauf hin, dass Hakon sich dies alles nicht eingebildet hatte. Er drehte sich zu seiner Familie um, die noch immer verängstigt beisammenstand und ihn wie ein Wesen von einem anderen Stern anstarrte.
***
Tess schlug die Augen auf, aber sie sah kein Licht. Dunkelheit, kühle Schwärze umhüllte sie. Sie wollte schreien, weil sie nicht wusste, wo sie war oder ob sie überhaupt noch lebte, aber sie brachte keinen Ton heraus.
Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war dieser ungeheure Schlag, diese ...
Explosion!
Explosion, ja richtig. Sie hob die Hand, berührte ihre Stirn und spürte einen dicken Verband. Wenigstens weilte sie noch unter den Lebenden, Tote musste man nicht verarzten. Dann tastete sie Zoll für Zoll ihren Körper ab. Erst das Gesicht, dann den Hals, den Oberkörper und die Beine. Alles war noch dran.
Aber wieso sah sie dann nichts?
Vermutlich, weil sie in einem vollständig abgedunkelten Raum lag. Plötzlich manifestierten sich die Bilder vom Gemüseladen in einer immer schnelleren Abfolge von Blitzen, nur getrennt durch kurze Phasen von dunklem Nichts.
Eine Stange Lauch. Zerfetzt, als hätte man auf sie geschossen.
Eine Frau, auf dem Boden liegend. Die Beine angewinkelt, die Strümpfe zerrissen. Den langen Rock bis zur Taille hochgerutscht.
Ein erschreckend menschlich aussehender Kohlkopf. Er rollte davon, als sei er auf der Flucht.
Die eigenen Hände ...
Rot
... voller ...
ROT
... Blut ...
ROT!
Tess schrie, holte Luft, schrie erneut. Hörte nicht das metallische Kreischen. Spürte nicht, wie sie hochgehoben wurde.
Hörte nicht die Stimme, die sie zu beruhigen versuchte. Aber sie sah das Licht, das durch die geöffnete Tür fiel. Und erst jetzt ließ sie sich fallen.
»Schsch«, machte die Stimme. »Schsch, es ist ja alles gut.«
Aber nichts war gut, nie wieder würde etwas gut sein. Die Welt war in ihre Einzelteile zersprungen. Tess hatte gesehen, was das Leben in seinem Innersten zusammenhielt, und es war ...
ROT!
»Hör auf!«, schrie sie verzweifelt gegen die Stimme in ihrem Kopf an. Sie stieß dabei die Person von sich, die sie in den Armen hielt.
Tess sah nicht, was geschah. Dazu reichte das Licht, das durch die angelehnte Tür fiel, nicht aus. Aber sie hörte es. Es war ein dumpfer Schlag, metallisch polternd, gefolgt von einem Stöhnen.
Tess sank wieder auf ihr Lager zurück und legte schützend den Arm über die Augen.
»Mein lieber Mann«, sagte die Stimme ächzend. »Du bist wirklich kräftig.«
»Wer sind Sie? Wo bin ich?«, keuchte Tess.
Ein Streichholz wurde angerissen und eine Petroleumlampe entzündet. Der gelbe Lichtschein fiel auf ein Gesicht, das Tess schon einmal gesehen hatte.
»Ich bin Morten Henriksson. Du befindest dich im Kohlenbunker einer alten Fabrik.«
Jetzt erkannte sie den Mann. Zu ihm hatte sie gesprochen, bevor sie ohnmächtig geworden war.
»Was ist geschehen?«, flüsterte sie schwach.
»Es hat einen Bombenanschlag gegeben«, sagte Henriksson. »Alle, die sich in dem Geschäft aufgehalten haben, sind tot. Auch der Attentäter.«
»Oh Gott!«, Tess spürte, wie sich ihre Kehle wieder zuschnürte. »Warum?«
Henriksson lachte nervös. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und er hatte sich seit Längerem nicht rasiert. »Das Innenministerium sagt, dass es ein Anschlag der Armee der Morgenröte sei. Aber das stimmt nicht. Das ist eine Lüge.«
»Eine Lüge«, wiederholte Tess.
Der Mann lachte rau, rang mit sich, um nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ich muss es wissen«, sagte er mit vor Wut zitternder Stimme. »Denn ich bin der Anführer dieser Armee. Ich würde wohl kaum meinen eigenen Laden in die Luft jagen, oder?«
Tess richtete sich auf. »Aber wer steckt dann dahinter?« »Das Ministerium selbst. Norwin ist ein skrupelloser Mann, der über Leichen geht, um seine Ziele zu erreichen.« »Wer ist Norwin?«, fragte Tess.
Henriksson hob die Augenbrauen. »Der Innenminister. Ihm untersteht die Geheimpolizei.« Er zog einen Stuhl heran, um sich zu setzen. Das scharrende Geräusch brach sich an den Wänden. Für einen kurzen Moment bekam Tess ein Gefühl für die Abmessungen des Raumes, der sich anhörte wie das Innere eines
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