Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
zurückgekehrt, obwohl er um dieMittagszeit wieder bei ihr sein wollte, um Vorräte und frische Kleidung zu bringen. Jetzt war es später Nachmittag und die Dinge begannen sich zu verändern.
Zuerst hatte sie die Sirenen gehört. Schichtende und Schichtbeginn wurden durch einen einminütigen Dauerton angekündigt. Jeder kannte ihn. Er war so etwas wie das Metronom der Stadt, das jeden Tag der Woche in drei gleichmäßige Teile unterteilte.
Die Sirene, die Tess jetzt hörte, war anders. Es war ein auf- und abschwellender Ton, der eine ganze Weile ohne Unterbrechung heulte, um dann langsam zu ersterben. Zunächst änderte sich nichts. Dann fiel ihr auf, dass es still wurde. So still, dass selbst das Rauschen der Stadt verstummte und sie durch die weiß gestrichenen Fensterscheiben der Fabrikationshalle das Schuhu der Tauben hören konnte, ganz so als befände sie sich im Stadtpark und nicht inmitten einer naturfeindlichen Industriebrache.
Tess hielt es nicht mehr aus. Obwohl sie Henriksson versprochen hatte, sich nicht von der Stelle zu rühren, kletterte sie die Treppe hinaus aufs Dach. Oben angekommen riss sie die Tür auf. Grelles Sonnenlicht ließ sie für einen Moment geblendet die Augen schließen, dann hatte sie sich an die Helligkeit gewöhnt. Sie beschattete mit der Hand ihr Gesicht und ließ den Wind durch ihr Haar wehen. Tess atmete tief die Luft ein, die noch immer diesen für Lorick typischen Geruch nach Kohle und Teer hatte. Aber im Gegensatz zu den anderen Tagen war die gelb-graue Glocke verschwunden, unter der die Stadt versank und aus der nur die Hochhäuser des Regierungsviertels wie Berge aus einem Nebelseeherausragten. Die Luft war so klar, dass Tess im Norden eine Bergkette erkannte, die vielleicht fünfzig, vielleicht sogar sechzig oder siebzig Meilen entfernt war. Obwohl der Frühling schon zu Ende ging und eine sommerliche Hitze auf Lorick lastete, waren die Gipfel noch immer schneebedeckt. Tess hatte im Unterricht gelernt, dass der südliche Teil Morlands aus einer riesigen fruchtbaren Tiefebene bestand, die im Norden durch die Vaftruden, einem gewaltigen Granitgebirge, von der Subpolarregion getrennt wurde. Aber mit eigenen Augen hatte sie die Berge noch nie gesehen.
Es war ein herrlicher Anblick. Sie stellte sich vor, wie sie alleine eine Klamm durchwanderte und auf einen der Berge stieg, nur um das Gefühl der Freiheit und der Einsamkeit zu genießen. Sie hatte noch nie einen Wald gerochen oder kaltes Quellwasser über ihre Arme fließen lassen. Tess kannte nur den trostlosen Hof des Kommunalen Waisenhauses Nr. 9, in den sich ganz selten mal ein Vogel verirrte. Im Winter hatte sie manchmal am frühen Abend zwei oder drei Sterne flackern gesehen. Wie viele würde sie in den Bergen zählen können, wo die Luft klar und sauber war?
Plötzlich hörte sie das dumpfe Zischen einer Dampfmaschine. Tess lief zum Dachrand und schaute vorsichtig hinunter.
Es war ein ziemlich alter Lastwagen, über dessen Ladefläche sich eine Plane spannte. Die Beifahrertür wurde geöffnet und ein Mann kletterte heraus, den Tess noch nie gesehen hatte. Er entriegelte das Vorhängeschloss, mit dem eine Garage gesichert war, und zog das Tor auf. Ächzend und schnaufend fuhr der Lastwagen hinein. Dann erstarb der Motor.
Türen klappten und dann sah Tess Henriksson in Begleitung einer Frau aussteigen. Das Tor wurde wieder geschlossen und die drei gingen zur Fabrikationshalle. Tess eilte zurück zu ihrem Versteck.
Sie hatte gerade auf einem Stuhl Platz genommen und eine möglichst unbeteiligte Miene aufgesetzt, als Henriksson mit seinen Begleitern die Halle betrat.
»Hallo, Tess«, sagte Henriksson. »Warum bist du nicht in deinem Versteck geblieben, wie ich es dir gesagt habe?«
»Bin ich doch«, sagte sie und klang dabei ein wenig beleidigt, als hätte man sie zu Unrecht zurechtgewiesen.
»Ich habe gesehen, wie du dich oben auf dem Dach herumgetrieben hast.«
Tess stotterte etwas, schwieg dann aber. Wie hatte er das bemerken können?
»Wir liefern uns seit Jahren ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei«, sagte Henriksson, als könne er ihre Gedanken lesen. »Glaub mir, das schult das Auge.« Er warf ihr eine Tasche zu. »Sachen zum Wechseln und etwas zu essen.«
Tess, die plötzlich sehr hungrig war, wickelte ein belegtes Brot aus und biss herzhaft hi nein. »Wer sind die ?«, fragte sie und nickte in die Richtung von Henrikssons Begleitern.
» Die sind Solrun Arsælsdottir und ...«
»... Paul
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