Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
wurden.
Viele weinten verzweifelt. Hakon versuchte die Schreie auszublenden und versteckte sich hinter dem Wagen seiner Eltern. Die Kiste. Er musste endlich wissen, welches Geheimnis sie barg. Mit zitternden Händen klappte er den kleinen Riegel hoch und öffnete sie.
Das Ding sah auf den ersten Blick wie eine Blume aus. Es hatte einen Stiel, paarweise angeordnete grüne Blätter und eine schwarzviolette Blüte. Hakon hatte so etwas noch nie gesehen.
Aber diese Blume war keine Pflanze. Sie sah eher wie ein besonders filigran gearbeitetes Schmuckstück aus. Hauchdünne metallisch glänzende Fäden waren umeinandergeschlungen. Hakon musste zweimal hinschauen, erst dann sah er es: Die Fäden bewegten sich in einem trägen Rhythmus, als würde dieses Etwas atmen oder ein schlagendes Herz haben. Jedenfalls wirkte es auf eine beängstigende Art und Weise lebendig. Hakon untersuchte die Blüte genauer, und erst jetzt bemerkte er, dass es zwischen ihr und dem, was wie ein Stiel aussah, keine feste Verbindung gab. Er nahm das Ding aus dem Kasten, um es genauer zu untersuchen.
Kaum hatte er sie berührt, als sich die Blüte zu ihm umdrehte und langsam ihre dunkelvioletten Blätter spreizte. Myriaden leuchtender Punkte glühten in ihrem Inneren auf und das Pulsieren verstärkte sich. Dann schlossen sich die Blütenblätter plötzlich wieder.
»Erstaunlich«, hörte er auf einmal eine Stimme hinter sich. Hakon wirbelte herum. An den Wagen gelehnt stand Swann und klatschte leise Applaus. »Erstaunlich in doppelter Hinsicht.«
Hakon schaute sich hektisch um, aber es gab keinen Fluchtweg. Er saß in der Falle. »Wovon sprechen Sie?«, fragte er. Sein Mund war trocken wie eine Wüste.
»Nun, ganz offensichtlich wurdest du nicht von einer Blüte infiziert, du hast sie eben das erste Mal in deinem Leben gesehen«, sagte Swann lächelnd.
Hakon durchzuckte ein Gedanke. »Sie sind ein Eskatay!« »Ja.«
»Genau wie ich.«
Swann schaute Hakon verdutzt an, dann lachte er laut. Nicht gehässig, sondern eher wie ein Mensch, der gerade Zeuge einer Offenbarung geworden ist.
»Nein«, sagte Swann schließlich und seine Augen funkelten eigentümlich. »Nein, du bist kein Eskatay. Dass du keine Verbindung zum Kollektiv hast, war verdächtig genug. Was du eben mit der Blume gemacht hast – ich habe noch nie erlebt, dass jemand sie dazu gebracht hat, sich zu schließen. Du bist ein Gist ! Du wirst mich begleiten müssen.«
Hakon wurde kalt. Es war nicht so sehr dieser unbekannte Name, der ihm Angst machte. Gist. Swann hatte das G weich ausgesprochen wie in ›Dschunke‹. Was auch immer es bedeutete, etwas anderes ließ Panik in Hakon aufsteigen. »Was ist mit meiner Familie?«
»Wir werden sie wie alle anderen Mitglieder des Zirkus Tarkovski mitnehmen müssen. Du weißt doch, sie haben keine gültigen Papiere. Aber ich verspreche dir: Wenn du mit uns kooperierst, wird ihnen nichts geschehen.«
Hakon musste noch nicht einmal Swanns Gedanken lesen, um die Gewissheit zu haben, dass der Kerl ihn anlog. Erbrauchte einen Plan, und zwar schnell, doch es war schwierig, sich eine Strategie einfallen zu lassen, wenn man mit ungeheurem Kraftaufwand versuchte, eine mentale Barriere aufrechtzuerhalten. Swann versuchte noch immer mit aller Macht in Hakons Kopf zu gelangen.
Er musste sich auf seine Intuition verlassen. Ohne Vorwarnung ließ sich Hakon fallen. Die Kiste an die Brust gedrückt rollte er unter dem Wagen hindurch, um auf der anderen Seite auf die Füße zu springen. Dann rannte er los.
Der Schmerz in seinem Kopf wurde jetzt zu einem bohrenden Stechen. Swann versuchte Hakon auf seine Weise aufzuhalten, doch Hakon war stärker. Er rannte, als sei der Teufel hinter ihm her, und in gewisser Weise stimmte das ja auch. Der Hügel, der Norgeby überragte und auf dessen anderer Seite Drachaker lag, war steil. Hakon spürte, wie seine Beine schwer wurden. Die Luft brannte bei jedem Atemzug in seiner Lunge. Er hatte noch nicht einmal die Hälfte geschafft, als ihm die Beine weggerissen wurden und er der Länge nach auf die Kiste stürzte, die er noch immer umklammert hielt. Der Schmerz war unglaublich. Hakon schrie laut auf. Eine Hand packte ihn und drehte ihn um. Es war Swann. Sein Grinsen war alles andere als freundlich.
»Wie hast du die beiden Katzen vertauscht?«, fragte er.
***
Irgendetwas stimmte nicht. Tess hatte sich jetzt mehr als vierundzwanzig Stunden in der alten Fabrik versteckt und Henriksson war noch nicht
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