Morland 02 - Die Blume des Bösen
Trotzdem ist es der einzige Ort auf der Welt, an dem wir Gist eine Gemeinschaft sind. Ich frage mich, wie sich wohl das Kollektiv der Eskatay anfühlen mag.« Er schwieg, als er Tess’ entsetzten Blick bemerkte. »Hast du eigentlich etwas über deine Eltern erfahren können?«, fragte er nach einer Weile vorsichtig.
»Sie sind tot«, sagte Tess. »Das hat mir zumindest eine Frau hier erzählt. Sie hat mir auch gesagt, dass wir drei die einzigen Gist sind, die seit sechzehn Jahren geboren wurden. Und dass eure Eltern ebenfalls tot sind. Erinnerst du dich noch an die kopflosen Leichen, die man gefunden hatte?«
Hakon nickte traurig. »Das waren sie?«
»Aber jetzt erzähl mir, wie es euch ergangen ist«, sagte Tess, die offensichtlich das Thema wechseln wollte. »Wie war eure Flucht?«
»Sie hätte beinahe ein tödliches Ende genommen.« Er berichtete vom toten Wald, den Teilnehmern der Expedition, die an der Koroba gestorben waren und Olav Lukasson, der Hakon vor dem Wolfsrudel gerettet hatte.
»Wir wissen jetzt, was Leon Begarells Familie zugestoßen ist. Und wir haben den Ort gefunden, an dem die erste Blume verborgen war. Im Moment sind wir eine Tagesreise von Morvangar entfernt. Von da aus wollen wir zu dieser Station 11 aufbrechen.«
»Zu Fuß?«, fragte Tess ungläubig.
»Natürlich nicht«, sagte Hakon. »Die Bahnlinie, die den Norden mit Morvangar und den Rest des Landes verbindet, führt hundert Meilen an der Station vorbei. Das müsste zu schaffen sein.«
Plötzlich schrie eine Frau auf und spuckte den Drink aus, den sie gerade zu sich genommen hatte. Sie betrachtete das Glas, als hätte sich sein Inhalt auf einmal in eine übel schmeckende Flüssigkeit verwandelt.
»Hier gibt es wirklich seltsame Leute«, sagte Hakon, als er sich wieder zu Tess umdrehte.
»Oh ja«, sagte sie und rollte vielsagend mit den Augen. Hakons Gesicht wurde wieder ernst. »Wie nah ist Lennart
eigentlich seinem Ziel gekommen, die Kinder zu befreien.« »Er ist verhaftet worden.«
»Du machst Witze!«, sagte Hakon. »Warum hast du das nicht verhindert?«
»Unsere Wege haben sich nach einigen Tagen getrennt. Er wollte nach den Vorfällen im Zug nichts mehr mit uns Gist zu tun haben.«
»Das ist meine Schuld«, sagte Hakon bitter. »Ich hatte versprochen, dass ihm und seiner Familie nichts zustoßen würde, solange ich bei ihm wäre.«
»Niemand hat ahnen können, dass sich die Eskatay an unsere Fersen heften!«
Hakon schüttelte den Kopf. »Doch, ich hätte es wissen müssen. Meine Begegnung mit Swann ließ keinen anderen Schluss zu. Er war ein Bluthund. Hatte er einmal Witterung aufgenommen, ließ er nicht mehr locker, bis er seine Beute zur Strecke gebracht hatte.«
Wieder ertönte ein Schrei. Diesmal war es ein Mann, der sein Glas erst hochhielt und dann angewidert auf den Tisch stellte. Noch ein Ausruf des Ekels, gefolgt vom Klirren zerspringenden Glases.
Tess und Hakon standen auf, um zu schauen, was dort vor sich ging.
»Liebe Gäste!«, rief eine helle Frauenstimme plötzlich. »Darf ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«
»Wer ist das?«, fragte Hakon.
»Das ist Nora«, antwortete Tess verwundert.
»Uns stehen schwere Zeiten bevor«, sagte Nora, die auf den Tresen der Rezeption geklettert war. »Und ich hege die Befürchtung, dass unsere kleine Gemeinschaft nicht mit der nötigen Entschlossenheit gegen diese Bedrohung vorgeht. Die Eskatay sind zurückgekehrt und wir tun so, als ginge uns das nichts an. Stattdessen kehren einige von uns der realen Welt den Rücken, um die Tage schlafend zu verbringen. Wir müssen aus diesem Traum erwachen, so schön er auch sein mag. Deswegen habe ich mich heute dazu entschlossen, das Hotel zu schließen.«
Ein Murren ging durch die Menge, das sich schließlich in ein belustigtes Gelächter verwandelte. »Wie willst du das anstellen?«, rief ein Mann und machte eine Geste, die alle Gäste umfasste. » Wir sind das Grand Hotel .«
Nora grinste den Mann auf eine geradezu entwaffnende Art an. »Nein, das seid ihr nicht. Und die Getränke waren erst der Anfang.« Sie schnippte mit den Fingern und ein fernes Donnern ließ die Fundamente erzittern. Der Kronleuchter an der Decke zitterte und fiel mit einem lauten Krachen auf den Marmorboden. Nora schnippte noch einmal. Ein Riss erschien in der Wand. Staub rieselte zu Boden, als die Erde weiterbebte. Auf Noras Gesicht zeichnete sich ein triumphierendes Grinsen ab. Was immer sie da tat, es schien ihr Spaß zu machen.
Die Gist
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